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Kultur: Der Mann hinter dem Vorhang

Saxofonist Von Freeman ist außerhalb von Chicago nie aufgetreten. Jetzt eröffnet er das Jazzfest

Es muss irgendwann in den Sechzigerjahren gewesen sein, als Von Freeman einen Entschluss fasste: Er würde auf dem Boden bleiben. Mit beiden Füßen. Anfang vierzig war er damals und schon damals lagen dreißig Jahre als professioneller Saxofonist hinter ihm. Doch außerhalb Chicagos kannte ihn so gut wie niemand. „Als Charlie Parker 1955 starb, starb der Jazz mit ihm“, erinnert sich Freeman. In Chicagos South Side, dort wo er sein Leben lang gewohnt hatte, gab es für Jazzmusiker plötzlich keine Arbeit mehr. „Eben noch waren da Hunderte kleiner Clubs. Und plötzlich machten sie alle zu.“ Übrig blieben nur Striplokale. Und die verwandelten Musiker zu Clowns. „Ich habe zwar mit dem Saxofon nie einen Purzelbaum gemacht oder ein Rad geschlagen. Aber alles andere habe ich getan. Ich bin beim Spielen raus auf die Straße gegangen und habe einen ganzen Pulk von Leuten in den Laden gelockt. Ich habe gleichzeitig gespielt und getanzt. Ich habe Jahre lang bei Strip-Shows gespielt. Deswegen ist mein Klang so voll: Man musste mich hören, obwohl ich hinter einem Vorhang stand.“ Dann entschied er: „Entweder stellst du dich auf beide Beine und spielst dieses Horn. Oder du lässt es bleiben. Alle großartigen Saxofonisten stehen beim Spielen still.“

Wenn im Jazz Individualität das Maß der Dinge ist, dann reichen nicht viele an Von Freeman heran. Niemand sonst kann so sehr für sich in Anspruch nehmen, den Chicago-Jazz zu verkörpern, dem sich das am Donnerstag beginnende Jazzfest widmet. Beinahe sämtliche Epochen hat der 80-Jährige miterlebt und kann sie in einem einzigen Takt zusammenfassen. In seinem Stakkato leben die Ragtime-Pianisten fort. Sein voluminöser Klang erinnert an die Tenoristen des Swing. Er schlägt Haken wie die Bebopper. Und in seiner harmonischen Freizügigkeit ähnelt er einem Free Jazz-Musiker. Das Wichtigste aber ist: So abstrakt seine Ideen sein mögen, sein Growl kommt direkt aus dem Inneren des Blues. Und er erzählt von seinen Onkels, die Ragtime und Dixieland spielten, und er erinnert sich an seine Kindheit, als Louis Armstrong – damals selbst erst Anfang 20 – gelegentlich sein Elternhaus besuchte.

Schon als 12-Jähriger, spielte Freeman regelmäßig in Clubs, unter strengen Auflagen seiner Mutter: „Sie ließ den Bandleader eine Erklärung unterzeichnen, mit der er garantierte, dass ich keinen Umgang mit Frauen haben würde. In den Pausen durfte ich den Backstage-Raum nicht verlassen.“ Nach dem Krieg leitete Von zusammen mit seinen beiden Brüdern die Hausband des Pershing Ballroom. „Wer damals nach Chicago kam, spielte in diesem Club: Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Billie Holiday, Sarah Vaughan.“

Von Freeman wäre vielleicht selbst berühmt geworden, wenn er nach New York gezogen wäre. So wie all die anderen Saxofonisten, die aus Chicago kamen: Gene Ammons, Eddie Harris oder Johnny Griffin. Haben sie doch von ihm gelernt. Doch Freeman ist in Chicago geblieben, bis heute, hat seinem Sohn Chico die Musik nahe gebracht, so dass der bekannter wurde als sein Vater. Noch immer leitet Freeman jeden Dienstag eine Jamsession in der „New Apartment Lounge“, einer Bar in seiner Nachbarschaft. Vielleicht ist es die letzte Session alten Schlags: eine, die für junge Musiker lehrreicher ist als jedes Konservatorium der Welt.

Bedauerlich ist nur, dass er so wenige Platten aufgenommen hat. Auf „The Improviser“ (Premonition/in-akustik), ein soeben erschienenes Live-Album, entfernt er sich in seinen Soli so weit von den standardisierten Harmonien, dass man im Meer der Abstraktion plötzlich die Essenz der Stücke funkeln sieht.

Von Freeman spielt mit seinem Quartett beim Eröffnungskonzert des Jazzfests: Haus der Berliner Festspiele, 31. 10., 19 Uhr 30.

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