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Kultur: Der Mann mit dem Magiermantel

Rudolf Steiner entsteinern? Zum 150. Geburtstag des umstrittenen Begründers der Anthroposophie

Seit fast hundert Jahren geht das nun schon: Die Anthroposophen hüten die Flamme und erklären Rudolf Steiner zur Lichtgestalt, in dessen Aura sich Okkultismus und Avantgarde berührten. Und für andere ist er ein Scharlatan. Steiner, der Mann im schwarzen Kaiserrock, der Mann hinter dem Spiegel.

Vor 150 Jahren wurde er geboren, am 27. Februar 1861 im österreichisch-ungarischen Kraljevec in einem Bahnwärterhäuschen der k.u.k.-Monarchie. Schon als Kind glaubte Rudolf Steiner, übersinnliche Fähigkeiten zu besitzen und sah eine Tante, die Selbstmord begangen hatte, durch den Ofen schweben. Auf eine gewisse Aufnahmebereitschaft für das, was in ihm lebte, hoffte er Jahrzehnte später, als er Ende April 1902 zum Generalsekretär der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft berufen wird. Hier wollte er nach dem Vorbild antiker Mysterienschulen eine moderne Initiationswissenschaft begründen.

20 Jahre, von 1903 bis 1923, lebte Steiner in Berlin-Schöneberg, in der Motzstraße erinnert eine Gedenktafel an ihn. Schon zu Lebzeiten sah jeder in ihm etwas anderes. Dem Publikum seiner Vorträge erscheint er als katholischer Kardinal, als Schullehrer, als nordischer Recke. Wassily Kandinsky steht unter dem Eindruck von Steiners Schriften, als er abstrakt zu malen beginnt, Christian Morgenstern ruft ihn zum Menschheitslehrer aus. Auch Kafka nimmt Zuflucht zu seinen Lehren, freilich nicht ohne sie im Tagebuch mit ätzender Skepsis zu bedenken. Was für Kandinsky Steiners Magiermantel, ist für Kafka fadenscheinig, der Sternenstaub bloß ein irdisches Phänomen.

Darüber wird bis heute gestritten: War Steiner der letzte Seher, der in den Weltzeitaltern las wie in einem Buch – wie er vor dem inneren Zirkel seiner Geistschüler behauptete? Oder war sein angebliches Charisma nur das professionell inszenierte, hohle Pathos eines Hochstaplers, wie Erich Mühsam meinte?

Steiner nahm für sich in Anspruch, ein Eingeweihter zu sein. Zugleich war er aber der Überzeugung, dass Intuition sich schulen lässt, dass „Hellsehen“ für jeden erlernbar sei. Das ist das Faszinierende an den jüngst erschienenen Steiner-Biografien. In ihnen kann man nachlesen, wie sehr der große Lebensreformer seiner Zeit verbunden war; dass er nicht nur aus sich schöpfte, sondern aus einer Vielzahl disparater Quellen. Steiner verleibte seinem System Züge der Theosophie ein, der zeitgenössischen Technik, ja sogar der Science-Fiction-Literatur jener Jahre. Hier – und nicht etwa beim Hellsehen – hat er auch seine Vision von Atlantis gefunden.

Rudolf Steiner versteht sich als Diagnostiker einer kranken Zivilisation. Während er die Tiefen der Geistesgeschichte abhorcht, fühlt er zugleich den Puls der Zeit. Mit dem Schock des Ersten Weltkriegs bricht die Bohème-Innerlichkeit der Theosophie zusammen. Deshalb will Steiner in seinen letzten Lebensjahren mehr in die Breite wirken, hält Vorträge vor Erziehern oder Arbeitern, manchmal drei am Tag. Und immer kommen die Menschen auf ihn zu: Bauern, die ihn fragen, warum die Kartoffeln nicht mehr schmecken, Ärzte, die wieder richtige Heiler sein wollen. Er stirbt 1925, nach kurzer schwerer Krankheit.

Konkurrenzlos ist Steiner, was die Vielfalt und Nachhaltigkeit seiner Impulse angeht, beim Biolandbau, der alternativen Heilkunde wie der Reformpädagogik. In Deutschland gibt es heute kaum eine alternative Subkultur, die nicht von seinen Intuitionen durchpulst ist. Während die Anthroposophie des Okkultismus und Obskurantismus verdächtig bleibt, sind ihre praktischen Anwendungen mittlerweile Alltagsphänomene. Bei den Waldorf-Schulen, in deren Refugien immer mehr Eltern ihre Kinder vor dem Turbokapitalismus in Sicherheit bringen wollen; im Bio-Kult, der dem Verbraucher im tiefenökologischen Einklang mit der Umwelt ein Stück seiner eigenen „Natur“ zurückgeben will; oder in der Hinwendung zu alternativen Heilverfahren.

Wenn man bedenkt, dass Steiner bereits 1923 sagte, ein Rind, an das man Fleisch verfüttere, verfalle dem Wahnsinn, oder dass er in seinen Vorträgen über die Bienen ein großes Bienensterben voraussagte – dann scheint er nicht nur ein Scharlatan gewesen zu sein.

Die ideologische Kampfzone weitet sich aus: „Kritiklose Anbetung eines durchgedrehten Säulenheiligen“, nennt Hans-Jörg Jacobsen, Molekulargenetiker und Ex-Präsident des Verbands Deutscher Biologen, die Dynamisierungsprozesse bei Demeter. Und er kritisiert ihre wissenschaftliche Erforschung: „Mit dem gleichen Recht könnten die Zeugen Jehovas eine Professur für Religionswissenschaft einrichten oder die Trekkies eine solche für Physik.“ Aber schmecken Demeter-Produkte nicht einfach besser – spätestens, wenn man Kinder hat?

Immer wieder ist bezweifelt worden, dass Waldorfschulen mit ihrer Runenlehre und dem Pentagramm-Rechnen als Horte der Humanität gelten dürfen. Dabei widerlegen empirische Studien über ehemalige Waldorfschüler solche gebetsmühlenartig vorgebrachten Argumente der Kritik gegen die Bildungseinrichtung: Die Absolventen zeigen eine hohe Zufriedenheit und Identifikation mit einer Schule, die nicht auf weltanschauliche Indoktrination angelegt ist. Zudem beweisen die beruflichen und gesellschaftlichen Erfolge, nicht nur im Hinblick auf Vorzeigebiografien wie die des ehemaligen Bundesinnenministers Otto Schily, dass Steiners Pädagogik sehr wohl lebenstüchtige Menschen hervorbringt.

Jedenfalls sollte es heute, 150 Jahre nach Steiners Geburt, möglich sein, noch ganz andere Seiten an dem Anthroposophen zu entdecken. Sein Frühwerk „Philosophie der Freiheit“ ist in der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu Unrecht kaum beachtet worden. Steiner war einer der besten Nietzsche-Kenner seiner Zeit. 1890 wurde er von Wien nach Weimar berufen, wo er sich als 29-jähriger Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften einen Namen machte.

Mit Goethe verbindet ihn viel, vor allem des Goetheanum, jener Hauptbau der anthroposophischen Weltzentrale im schweizerischen Dornach in Form eines Urschädels, der ihn zudem als eigenwilligen, originellen Architekten ausweist. Seit einiger Zeit sucht man – computergeneriert – in der Architektur und im Design wieder nach freieren Formen und bezieht sich dabei auch auf das Goetheanum als Grundikone der sogenannten „organischen“ Architektur.

Frappierend sind auch Steiners „Einflüsterungen“ ins grüne Milieu. Der RAF-Anwalt und spätere Innenminister Otto Schily skizzierte 1986 vor den Abgeordneten des Deutschen Bundestages seine Vision, Steiners sozialrevolutionäre Dreigliederungsidee von der „Gleichheit im Rechtsleben“, der „Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben“ und der „Freiheit im Geistesleben“ auf ihre Zukunftsträchtigkeit hin zu befragen. Diese Debatten in der Gründungsgeschichte der Grünen Partei sind wiederum nicht ohne Joseph Beuys denkbar. Beuys hatte seine gesamte Kunst als „Schulungsweg im Sinne Rudolf Steiners“ bezeichnet.

Es waren Beuys-Schüler, die Steiner als Künstler entdeckten. Die Wandtafelbilder, mit denen er seine Vorträge zu illustrieren pflegte, waren fast 60 Jahre im Rudolf-Steiner-Archiv in Dornach in einen Dornröschenschlaf gesunken. Steiner, der „Alchemist des Alltags“, ein Ahnherr moderner Künste? Vielleicht gehört er ja mehr ins Museum als in den Pantheon der Wissenschaft. Vielleicht kann die Kunst die Mauern seines geistigen Ghettos durchbrechen und Steiner „entsteinern“.

Rudolf Steiner gehört nicht den Anthroposophen allein. Anthroposophie ist heute als Kulturimpuls von Interesse – auch für Nicht-Anthroposophen.

Der Autor lebt als Germanist und Ausstellungsmacher in Bonn.

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