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Kultur: Der Mensch ist auch nur ein Tier

Mit dem Auge des Zoologen: Eine Ausstellung erinnert an Friedrich Seidenstücker

Von Christine Meffert

Nichts gegen den Berliner Zoo, aber als Motiv für einen Umzug nach Berlin wird er selten genannt. Doch Friedrich Seidenstücker, 1882 im westfälischen Unna geboren, hat in seinem Leben und in seiner Kunst häufig oben und unten, wichtig und unwichtig miteinander vertauscht. Es passt gut zu diesem seltsamen Lebenskünstler, dass er wegen der Tiere in die Großstadt ging. Folgerichtig war es auch ein Zoologe, der den vergessenen Fotografen, dessen Nachlass im Keller eines Trödlers verstaubte, wiederentdeckt hat. Das Preußische Bildarchiv erstand 1971 mit seiner Hilfe die Hinterlassenschaft des „armseligen Fotografen“ für ganze 500 Mark.

Auch die Ausstellung in der Galerie Berinson besteht zur Hälfte aus Bildern von Zootieren. Sie erfassen das Wesentliche, das Typische der jeweiligen Art und haben oft einen humorvollen Beiklang, ohne zur Karikatur zu geraten und Lama oder Flusspferd zu vermenschlichen. Wenn man sich Seidenstückers Momentaufnahmen des Berliner Straßenlebens anschaut - den zweiten Schwerpunkt seiner Arbeit -, wird deutlich, dass es genau umgekehrt ist: Er betrachtet den Menschen mit dem Blick des Zoologen.

Als Kind habe er nicht gern gelesen, schreibt Seidenstücker in einem Lebenslauf. Die einzige Lektüre, die er schätzte, war ein Konversationslexikon. Eine scheinbar nebensächliche Bemerkung, aber doch erhellend für seine Arbeit. Obwohl er sich selbst als „Momentknipser" bezeichnete, als einen, der seine besten Aufnahmen „aus der Hand“ macht, fangen seine Aufnahmen von Mensch und Tier immer etwas ein, was über den Moment hinausgeht: Vielleicht den - wenn man so will - unveränderlichen, ewigen Wesenskern der Gattung.

Schon als Kind widmete Seidenstücker sich vor allem den Tieren, dem Zeichnen und seiner Kamera, die er aus einer Laterna Magica und einer Kiste gebaut hatte. Der Vater nahm es hin - „was sich später rächen sollte“, wie der Fotograf trocken anmerkte. Zunächst aber studierte der Sohn Maschinenbau, ab 1909 an der Königlichen Technischen Universität in Berlin. Als der 1. Weltkrieg „reichlich überflüssig und überraschend“ (Seidenstücker) alles über den Haufen warf, kam er in Potsdam als Flugzeugkonstrukteur unter. „Und dann war ich froh, dass ich den Quatsch los war. Ich machte dann gleich wieder Bildhauerei und war froh, dass ich wieder allein war und ging dauernd in den Zoo". So begann er im Alter von 37 Jahren das Studium der Bildhauerei. Die Fotografie war für ihn lange Zeit nicht mehr als ein beiläufiges Vergnügen. Er benutzte die Kamera, um auf seinen langen Spaziergängen durch die Stadt interessante Alltagsszenen festzuhalten. Man hat ihn mit Franz Hessel verglichen, dem literarischen Paradeflaneur Berlins, nur dass Seidenstückers Medium eben die Fotografie war.

Das Spontane, am Rande der Wahrnehmung Eingefangene ist die große Begabung Seidenstückers, die er naturgemäß schwer in die Bildhauerei übersetzen konnte. Vielleicht geht seinen Skulpturen deshalb der Humor, aber auch das bei aller Banalität der Motivwahl beinahe surreal Beunruhigende ab, was seine Fotografien so eindringlich macht. Jedenfalls war er als Bildhauer nie erfolgreich. Der Erfolg kam, was ihn selbst wohl am meisten verwunderte, aus einer ganz anderen Richtung. Ende der zwanziger Jahre bekam er immer öfter Angebote für seine Tieraufnahmen, seine Straßenszenen und seine erotischen Bilder. Denn Seidenstücker habe ein großes „ästhetisches Vergnügen“ an „gut gebauten jungen Frauen“, berichtet eine alte Freundin. Auf der Straße, in Parks oder auf Sportplätzen sprach er sie an und lockte sie in sein Atelier. Doch seine Akte gleiten nie ab ins Pornografische. Nie versuchte er, Macht über sein Motiv zu erlangen - ganz gleich ob Mensch oder Tier, bei Seidenstücker ist das abgelichtete Wesen stets Subjekt. Sein Blick bleibt der eines unbeteiligten Voyeurs, der seinen Standpunkt - auch ideell gesehen - hinter dem Rücken seines Motivs hat. Die Beziehung zwischen Künstler und Modell bleibt unsichtbar.

Das war in der Kunst so, im Leben sah es anders aus. Seidenstücker hatte viele Freundinnen. Eine Ehefrau hatte er nie. Er wusste sich gesellschaftlichen Normen zu entziehen. Was ihn nicht interessiert, hat er ignoriert. An den Prunkbauten des Kaiserreichs, an der großen Politik und auch an der Nazizeit hat er vorbeifotografiert. Und obwohl er in Berlin die beiden Weltkriege erlebt hat, war er nie Soldat. Eine feste Anstellung hat er stets abgelehnt: Nach seinen Diensten als Flugzeugkonstrukteur war ihm diese Daseinsform gründlich verleidet. So gesehen führte Friedrich Seidenstücker eine typische Berliner Aussteigerexistenz - allerdings in einer Zeit, als dafür eigentlich noch keinen Platz gab. Der Preis war hoch: Immer wieder war er auf die Unterstützung seiner Familie in Unna angewiesen, zeitweise auch auf das Sozialamt. Seine Wohnung am früheren Kaiserplatz, dem heutigen Bundesplatz, war sehr bescheiden. Im obersten Stockwerk des Hinterhauses hatte er zweieinhalb Zimmer, die Küche diente ihm zugleich als Fotolabor und Modellierwerkstatt.

Er sei immer „bescheiden in seinen persönlichen Ansprüchen“ gewesen und „ und großzügig den Freunden gegenüber mit seinen Bildern, die er stets verschenkte“, erinnert sich die Freundin. „Bis zum heutigen Tage fotografiere ich noch alles, Landschaften, Menschen und Tiere mit dem größten Interesse“, schrieb er zu seinem achtzigsten Geburtstag. Vier Jahre später, 1966, ist Friedrich Seidenstücker in einem Altenheim gestorben. Seine Fotografien sind eingegangen ins kollektive Gedächtnis der Stadt.

Friedrich Seidenstücker (1882- 1966), Photographien, Galerie Berinson, Auguststraße 22, Mitte, bis 12. Oktober Di-Sa 14-19 Uhr.

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