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Kultur: Der Mensch ist ein lüsterner Jäger

Aleksandar Tisma, 78, ist der Sohn einer ungarischen Jüdin und eines Serben. Er wurde in dem nordjugoslawischen Dorf Horgos an der Grenze zu Ungarn geboren und wuchs in Novi Sad, der Hauptstadt der Vojvodina auf, wo er heute noch lebt.

Aleksandar Tisma, 78, ist der Sohn einer ungarischen Jüdin und eines Serben. Er wurde in dem nordjugoslawischen Dorf Horgos an der Grenze zu Ungarn geboren und wuchs in Novi Sad, der Hauptstadt der Vojvodina auf, wo er heute noch lebt. Nach dem Massaker, das deutsche und ungarische Truppen 1942 an Juden und Serben in der Donaustadt anrichteten, floh er nach Budapest. 1944 wurde er in ein Zwangsarbeitslager nach Transsylvanien gebracht, wo er Schützengräben gegen russische Panzer aushob. 1944 trat er in die Jugoslawische Befreiungsarmee ein. Um die Erlebnisse dieser Jahre kreisen die meisten seiner Bücher. Nach dem Krieg ließ er sich zum Journalisten ausbilden und arbeitete als Lektor. Im Mittelpunkt seines Werks, das auf Deutsch bei Hanser erscheint, steht der "Pentateuch2, eine Folge von fünf Büchern über Schicksale in Novi Sad vom Zweiten Weltkriegs bis zu den sechziger Jahren. Als Tismas Meisterwerk gilt "Der Gebrauch des Menschen", mit dem er sich 1991 auch hierzulande vorstellte. Der Roman machte ihn schlagartig bekannt. Bis Ende Mai ist er in Berlin als Stipendiat der Stiftung Preußische Seehandlung bei der Akademie der Künste auf Einladung ihres Präsidenten György Konrád zu Gast.

Herr Tisma, jedes Mal, wenn Sie in den Hof zu Ihrer Charlottenburger Wohnung einbiegen, müssen Sie unter einem Schild hindurch, auf dem in Riesenlettern steht: "Was Gott ist, setzt sich durch." Ihre Bücher entwerfen eine Welt, in der immer die schlechte Natur des Menschen siegt. Der Titel eines ihrer Erzählungsbände, "Die Schule der Gottlosigkeit", ist Programm. Erscheint Ihnen die Aufschrift nicht wie der blanke Hohn?

Mir ist das erst gar nicht aufgefallen, sondern meiner Frau. Und selbst wenn es mir aufgefallen wäre, hätte ich keinen Gedanken daran verschwendet. Ich bin kein großer Denker. Ich habe wenig Aphorismen gelesen und nur sehr wenig Philosophie. Ich bin in erster Linie ein Beobachter, und mein Desinteresse an Theorien hat sich immer wieder bestätigt. Einmal war ich zu Gast bei einem Freund. Er hatte einen Band mit den "Reflexionen" von La Rochefoucauld. Das Hineinlesen hat mich zu dem Schluss gebracht, dass fast jeder Gedanke mit demselben Recht in sein Gegenteil verkehrt werden könnte. Wenn also hier steht, "Was Gott ist, setzt sich durch", könnte man ebenso gut behaupten: Was Gott ist, setzt sich nicht durch.

Krieg und Not mobilisieren bei Ihren Figuren zerstörerische Kräfte, bis in den persönlichsten Umgang, die Liebe, hinein. Hat das vergangene Jahrhundert die Anlagen des Menschen für Sie darin auf die Spitze getrieben?

Das 20. Jahrhundert war reich an schrecklichen Geschehnissen und Massenvernichtung, aber ich glaube nicht, dass darin etwas kulminiert. Es gibt immer irgendwo Krieg und Morden - wenn nicht in Europa, dann in Asien, wenn nicht in Asien, dann in Europa. Die Lust an der Vernichtung gehört zum Menschen. Bei uns, in den Sümpfen der Vojvodina, wurden jetzt 500 000 Singvögel getötet. Eine Gruppe von Italienern, die jedes Maß verloren hatte, war dorthin zur organisierten Jägerei aufgebrochen. Die Vogelleichen fand man in mehreren Lastwagen. Manche Tiere waren sogar zweimal von Kugeln durchlöchert worden. Sie wurden abgeschossen und später noch einmal wie Tontauben in die Luft geworfen. So wie der Mensch Vögel umbringt, bringt er auch sich selbst um.

Sie betrachten Ihr schriftstellerisches Werk als abgeschlossen. Doch sie lesen noch öffentlich aus Romanen und Erzählungen, die zum Teil 30, 40 Jahre alt sind. Gehören Ihnen diese Bücher noch?

Ja, sie gehören mir noch. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich sie geschrieben habe, sogar an Details. Ich würde sie auch nicht anders schreiben. Manchmal staune ich eher, dass ich sie überhaupt schreiben konnte. Es ist nicht meine Eitelkeit, die mich das sagen lässt. Ich fühle mich dazu einfach nicht mehr imstande, die Kraft und das Bedürfnis zu schreiben haben nachgelassen.

Und Ihre Beobachtungsgabe?

Ich schaue nicht weniger genau hin, habe aber nicht mehr den Nebengedanken, es zu verwerten. Es kommt noch immer vor, dass ich mir denke: Ach, das wäre ein interessantes Motiv. Doch mein Abschied vom Schreiben hat sich lange angebahnt. Wenn man über Jahrzehnte hinweg schreibt, beschließt man hundert Mal aufzuhören. Und bei "Kapo", meinem letzten Roman, der vor 15, 16 Jahren entstanden ist, fühlte ich, dass ich mich vom Erlebnis des Schreibens endgültig entfernt hatte. Ich hatte alles gesagt.

Trotzdem haben Sie danach neben Skizzen noch Ihre bisher unübersetzte Autobiografie "Denke oft an Vali" veröffentlicht und vor allem ein Buch von 1200 Seiten Umfang, auf das Ihre deutschen Leser besonders gespannt sind: das Tagebuch, das Sie im September 1942, also mit 18 Jahren, zu schreiben begonnen haben. Was hat es mit mit diesem sagenumwobenen Werk, das Sie lange zurückgehalten haben, auf sich?

Es ist ein ganz persönliches Tagebuch. Nichts Äußerliches. Fast ein lamentierendes Mädchentagebuch, das von meinen Wünschen und Unfähigkeiten erzählt. Zeitgeschichte kommt nur am Rande vor. Man hat mir vorgeworfen, dass ich nichts über den Krieg der Nato gegen Jugoslawien notiert habe. Aber ich habe auch kein Wort über die Schlacht um Stalingrad verloren, die im Februar 1943 zu Ende ging. Ich war gerade in einem Freudenhaus in Novi Sad, als ein deutscher Soldat auf mich zutrat und sagte: Ich komme aus Stalingrad, der Hölle auf Erden. Ich sehe sein Gesicht noch genau vor mir. Das hat bei mir den bleibenden Eindruck hinterlassen.

Haben Sie den Text von damals korrigiert?

Bis auf Kleinigkeiten habe ich kaum etwas verändert. Meine Frau hatte die Hefte schon früher gelegentlich in der Hand und fühlte sich gedemütigt, weil ich darin auch über meine Liebschaften schreibe. Mit Rücksicht auf sie habe ich alles gestrichen, was sie, meinen Sohn oder meine Familie beleidigen könnte - und einige Bewohner meiner Stadt. Die Stellen werden am Ende des Buches dokumentiert. Die Originalhefte liegen in Novi Sad, im Archiv des Kulturvereins "Matica Srpske". 25 Jahre nach meinem Tod und dem meiner Frau kann man dann überprüfen, was ich gestrichen habe.

Primo Levi, ein Schriftsteller Ihrer Generation, mit dem sie ein fast wissenschaftliches Interesse für das Verhalten des Menschen unter unmenschlichen Bedingungen teilen, ist ein barmherziger Erzähler - trotz des Leides, das er in Krieg und KZ erfahren hat. Sie sind der unbarmherzigste Erzähler, den man sich vorstellen kann.

Das kommt aus meiner Person. Ich war immer unzufrieden mit mir selbst, mit meiner Umgebung, der Stadt, in der ich lebe und meiner Familie. Alles ging mir auf die Nerven. Vielleicht sind meine unbarmherzigen Urteile eine Art Rache. Ich wollte gegen meine Umgebung unbarmherzig sein, weil ich mich schwach fühlte, und ich hatte keine andere Möglichkeit, mich zu rächen.

Zu dem Eindruck von Unerbittlichkeit trägt auch der Stil bei. Ihre Romane, die vom tosenden Zerfall des Vielvölkergemischs in Ihrer Heimatstadt Novi Sad während und nach dem Zweiten Weltkrieg erzählen, sind über weite Teile im Präsens geschrieben. Und sie leben von exakt, ja übergenau beschriebenen Topographien, die das Bild, das sie heraufbeschwören, manchmal gleich wieder verschwimmen lassen. Woher kommt dieser Hyperrealismus?

Ich habe das alles mehr oder weniger unbewusst gemacht: das Präsens und die beinahe katalogische Beschreibungen von Körpern, Wohnungen und Straßen. Ich wollte das schreiben, was ich lesen wollte. Natürlich hat man Muster, und man orientiert sich an Autoren, die man vielleicht nicht einmal so hoch schätzt, von deren Methode man sich aber anregen lässt.

Man kann kaum glauben, dass Sie angesichts dieser analytischen Kühle für Intellektuelle wenig übrig haben. Existenzielle Erfahrungen betreffen, wie Sie sagen, zwar auch den einfachsten Menschen. Aber man braucht doch ein hohes Abstraktionsvermögen, um das Verhältnis von Opfern und Tätern, in seiner ganzen Doppelgesichtigkeit zu verstehen. Sie treiben, wie kaum ein anderer Erzähler viktimologische Studien, im Kleinen wie im Großen: "Das Buch Blam" erzählt zum Beispiel von der Scham des überlebenden Opfers, "Kapo" von den Schuldgefühlen eines kroatischen Juden, der nur Dank seiner Kollaboration mit der SS überlebt hat.

Ich halte das vor allem für eine Fähigkeit zur Beobachtung - auch zur Beobachtung seiner selbst. Mich interessiert das vergehende Leben selbst, aber so geformt, dass es überdauert. Vielleicht kann ich auch besser als andere bis auf den Grund eines Menschen hinuntersehen. Gestern war ich mit meiner Frau wieder einmal in dem Restaurant, das wir im Lauf unseres Berliner Aufenthalts vielleicht schon zehnmal besucht haben. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Kellnerin auch Jugoslawin ist: eine Ehefrau und Mutter, die in Berlin schon von Kindesbeinen an lebt. Jetzt kommen drei Männer in das Restaurant. Einer von ihnen, aufdringlich, laut und unangenehm, scheint sie gut zu kennen. Aus seinem ganzen Benehmen sieht man, dass er sich als ihr Herr fühlt. Er, der Mann, bezahlt, und sie, die Frau, gehorcht. Und auf einmal ist ihre Lage ganz anders. Sie ist offenbar eine Kellnerin, mit der man sich als Mann vergnügen kann. Das sind Sachen, die jemand anders nicht so genau oder unbarmherzig bemerkt.

Was zählt Ihre Stimme im heutigen Jugoslawien, nachdem Ihre Bücher durch die Balkankriege visionäre Qualitäten bekommen haben?

Ich kann das schlecht sagen. Man hört Sachen über sich, schmeichelhafte Dinge wie die, dass man eine moralische Institution sei. Aber das erzählt man jedem älteren Mann. Außerdem gibt es nicht nur eine moralische Autorität, es gibt mehrere. Und manche behaupten das Gegenteil von mir und sind ebenso angesehen. Die Vorbilder wechseln ganz nach den gesellschaftlichen Gruppen, die untereinander kämpfen.

Interessieren sich junge Leute für Sie?

Was ich gepredigt habe, ist vorbei. Es ist auch symptomatisch, dass niemand meinen Stil oder meine Methode imitiert. Mein einziger Nachfolger, ein gewisser Miodrag Popovi¿c, ist gestorben. Dabei hatte er ein ganz anderes Leben als ich. Er war politisch engagiert und auf der "Nackten Insel" interniert, wohin Tito seine politischen Gegner bringen ließ. Sonst gibt es keine Nachfolger. Und politisch? Vor den letzten Wahlen in Jugoslawien habe ich dem "Spiegel" erklärt, dass Slobodan Milosevic verlieren wird, weil vor allem junge Leute ihn ablehnen. Das haben zwei Belgrader Zeitungen kurz vor der Wahl gemeldet. Aber was bedeutet das? Man man kann daran höchstens erkennen, dass das Milosevic-Regime nicht so streng war, wie man vielleicht denkt.

Hatten Sie sich nicht kurz zuvor noch bezweifelt, dass weder Nato-Bomben noch Wirtschaftssanktionen Milosevic stürzen könnten?

Es ist etwas geschehen. Auf einmal hat die Mehrheit der Bevölkerung verstanden, dass Milosevic nicht mehr auszuhalten ist, dass er uns nur Verderben bringt, nichts anderes.

Wie stark beschäftigt Sie jetzt der Prozess gegen Slobodan Milosevic in Den Haag?

Ganz von weitem. Vor zwei Jahren machte ich in Basel die Bekanntschaft eines Richters vom Obersten Gerichtshof in Lausanne. Als ich mit ihm sprach, habe ich gesehen, wie wenig er über die tatsächlichen Verhältnisse wusste. Er redete alles nur den Zeitungen nach. Nein: Das Schlimme ist, dass jeder alles selbst erfahren muss. Ich habe mir dann vorgestellt, statt Carla Del Ponte könnte er der Chefankläger sein... Der Mensch denkt, was er denken will, und das wird zur Masseneigenschaft. Deshalb entsteht zwischen bestimmten Gruppen Hass.

Wie erleben Sie das jetzt in Novi Sad?

In einem Hauseingang habe ich unlängst zwei Frauen belauscht. Die eine sagt: Also diese Zigeuner! Erstens wollen sie nicht arbeiten, zweitens sind sie schmutzig. Und die andere sagt: Erst vor zwei Tagen hat mich eine angebettelt. Ich erkläre, dass ich kein Geld übrig habe. Und sie fragt mich daraufhin, ob sie bei mir putzen dürfe. Ich sage: Was, Sie wollen meine Wohnung aufräumen? Weg mit Ihnen, hinaus! Und vor zwei Minuten hat die andere erklärt, dass Zigeuner nicht arbeiten wollen. Die Menschen sind einfach dumm.

Herr Tisma[wenn Sie in den Hof zu Ihre], jedes Mal[wenn Sie in den Hof zu Ihre]

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