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Kultur: Der Mensch ist entziffert: Ich ist ein anderer

Jede Reise in die Welt ist auch eine Reise ins Ich. Selbst die äußere Ausschweifung, die Sehnsucht, den Grenzen der eigenen Haut, Kultur oder Geographie zu entkommen, birgt die Hoffnung, irgendwo die eigene Existenz zu befestigen, abzubilden.

Jede Reise in die Welt ist auch eine Reise ins Ich. Selbst die äußere Ausschweifung, die Sehnsucht, den Grenzen der eigenen Haut, Kultur oder Geographie zu entkommen, birgt die Hoffnung, irgendwo die eigene Existenz zu befestigen, abzubilden. Und welches Bild der Mensch vom Menschen entwirft, ist eine Schlüsselfrage der Philosophie und aller Dichtung und Kunst, von den frühesten Höhlenmalereien an.

Nach dem Austritt aus der Höhle schien das Himmelsgewölbe noch eine Weile die göttliche, den Menschen bergende Höhle. Seit der Renaissance aber ist die große Weltschale zerbrochen, das Bild vom Menschen als Mittelpunkt des Universums explodiert - und seitdem hat mit immer größerer Intensität die Reise in zwei Richtungen begonnen: zu den Sternen und zu den Genen. Von "Genen" ist als den Trägern des menschlichen Erbguts zwar erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Rede. Aber unserer biologischen Spur sind schon jene Ärzte der Antike, die Leichen öffneten, gefolgt - und vor über 500 Jahren dann auch, trotz aller kirchlicher Verbote, Künstler wie Michelangelo und Leonardo da Vinci, der nicht nur 1490 den hier abgebildeten legendären "Muskelmann" in idealen Proportionen zeichnete. Da Vinci erforschte auch die Blutbahnen als unsere inneren Flüsse und Ströme, er skizzierte die verborgenen Organe, um 1492 sogar röntgengleich einen Koitus. Natur- und Humanwissenschaften waren damals noch eins.

Von der Anatomie und Physiologie zur Psychoananalyse war der nächste Schritt. Einen Kernsatz der Moderne hat der junge Dichter Arthur Rimbaud schon vor 130 Jahren notiert: "Ich ist ein Anderer." Dennoch galt der bürgerliche Romancier und Dramatiker, ob Flaubert, Ibsen oder Schnitzler, weiterhin als avancierter Kenner der menschlichen Seele. Daran hat auch die Erfindung der Psychoanalyse nur wenig geändert. In der Bildenden Kunst ist das Menschenbild zwar explodiert: bis in die Abstraktion oder in die Körper-Mollusken eines Francis Bacon. In der Literatur aber ist unsere Kontur, trotz Joyce und Beckett, eher heil geblieben. Dr. med. Gottfried Benn hatte vor einem halben Jahrhundert bereits über die alte Herz- und Seelen-Metaphorik gespottet. Aber von Liebe und Hass nur als chemischen Reaktionen, als molekularen Vorgängen zu handeln, macht noch keine Kunst, und das genomische Alphabet, A T C G, spricht außerhalb der Naturwissenschaften noch keine Sprache. Trotzdem werden das Selbstbild, der Subjekt-Begriff tangiert. Und aus Science-Fiction entspringt ein neues Stück Realität. Als Herausforderung auch für Literatur und Kunst.

P. v. B.

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