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Kultur: Der Mensch tritt stets daneben

Seit der Antike existieren Beschreibungen von Städten, die das Städtische mit dem Körperlichen vergleichen.Sie wollen einem sagen, daß der Organismus einer Stadt so anfällig ist wie der menschliche Körper.

Seit der Antike existieren Beschreibungen von Städten, die das Städtische mit dem Körperlichen vergleichen.Sie wollen einem sagen, daß der Organismus einer Stadt so anfällig ist wie der menschliche Körper.Die kleinste Einwirkung vermag das somatische wie das städtische Gleichgewicht zu kippen.Ein Klebestreifen über dem Mund macht einen Menschen mundtot.Und ein über die Infrarotschwelle einer Metrotür geklebtes Stück Metall kann ein gesamtes U-Bahnnetz für Minuten zum Kollabieren bringen.

Mit solchen Interventionen im Stadtraum hat der US-Amerikaner Sean Snyder nicht nur das Frankfurter U-Bahn-Netz lahmgelegt.Der gerade mal 26jährige Student der Frankfurter Städelschule hat mit seiner urbanen Guerilla-Taktik in kürzester Zeit den gesamten Parcours an renommierten Großausstellungen absolviert, den andere mit vierzig nicht in einer Saison verkraften.Man müßte mißtrauisch werden, spräche nicht die heftige Ironie seiner Arbeiten für sich.

Im "Museum in Progress" in Wien hat Snyder Fotos von Allerweltsarchitektur mit nichtssagenden Texten so zusammenmontiert, daß sich der Text auf kein Bild und das Bild auf keinen Ort bezieht - was einen jener "non-spaces", also "Nicht-Räume" entstehen ließ, für die sich Snyder interessiert.Auf der Manifesta in Luxemburg war ein Video zu sehen, in dem Leute stundenlang durch eine Schiebetür auf dem Frankfurter Flughafen von nirgendwo nach nirgendwo spazierten - was die überraschte Desorientierung der Flughafengäste in Beziehung zu setzen erlaubte zu der topographischen Desorientierung, die ein Flughafen darstellt.

Nun bei seinem ersten Soloauftritt in der Galerie Neu zeigt Snyder in einer Installation per Foto, Buch und Video, wie der öffentliche Organismus auch außerhalb seiner Metro-Aktion lahmgelegt wird: Und zwar in Form von zerschmissenen Fensterscheiben, umgestürzten Mobiltoiletten oder abgerissenen Telefonhörern.Der ganz normale Vandalismus ist für Snyder Zeichen einer quasi gesetzmäßigen Disfunktionalität.Den Umsturz von Ordnung in Chaos spürt er in seiner künstlerischen Feldanalyse überall dort auf, wo eine Ordnung implantiert werden sollte.Der Plan scheitert immer.Der Mensch tritt stets daneben.Und es zerdeppern Mülleimer, Fahrräder und Autolack.

Es kann angesichts dieser nicht unlustvollen Gewaltstatistik nur als Zynismus verstanden werden, wenn Snyder den diesjährigen Kulturpreis des Bundesverbandes der Deutschen Industrie erhält - oder als Belohnung eines Beitrages zur Ersatzteilbeschaffung.Jedenfalls nimmt es kaum Wunder, wenn Snyder mit seinem industriekompatiblen ästhetischen Vandalismus auf der Berlin Biennale landet, die im großen Stil vorführen wird, wofür Snyder im Kleinen steht: Für den Schulterschluß zwischen solventem Kapital und subversiver Kultur.

Snyder ist genau der Typ von desillusioniertem aber experimentierfreudigem Zyniker, der die Bombe auf die wirft, die ihm die Arbeit ermöglichen - und die nach dem Attentat die kassierte Versicherungsprämie ihrem Künstler schulterklopfend überweisen.Insofern überrascht es in der Tat, wenn Snyder auf der Biennale nur eine abgeschwächte Variante seiner empirischen Störfaktoren präsentiert.Er wird an einer der Schnittstellen zwischen ideologischem, politischem und utopischem Raum - auf dem Fernsehturm am Alexanderplatz - eine Art Mediathek einrichten, mit Lesesaal, Internetanschluß und Zugang zum offenen Kanal.

Während Snyder sonst das Chaos in der Ordnung aufzeigte und Funktionen zum Entgleisen brachte, verfährt er nun andersherum.Sein Media-Terminal will die chaotische Struktur des Alexanderplatzes aktivieren und in der degenerierten Stadtarchitektur neue Funktionen generieren.Also nicht Körper zu Kadavern, sondern Frankensteins Monster.

Galerie Neu, Charitéstraße 3, bis 24.Oktober; Dienstag bis Freitag 14-19 Uhr, Sonnabend 12-16 Uhr.

KNUT EBELING

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