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Kultur: Der Mensch wird sich behaupten

Lob des Romans: Eröffnungsrede zum 5. Internationalen Literaturfestival Berlin / Von Carlos Fuentes

Unlängst richtete die norwegische Akademie an hundert Schriftsteller aus der ganzen Welt eine einzige Frage: Nennen Sie den Roman, den Sie für den besten aller Zeiten halten. Von den einhundert Befragten antworteten fünfzig: „Don Quixote de la Mancha“ von Miguel de Cervantes Saavedra. Geradezu ein Erdrutschsieg, in Anbetracht der Nächstfolgenden: Dostojewski, Faulkner und Garcia Márquez, in dieser Reihenfolge. Dieses Ergebnis wirft die interessante Frage Longseller kontra Bestseller auf. Es gibt natürlich keine Antwort, die in allen Fällen zutrifft. Warum verkauft sich ein Bestseller, warum hält sich ein Longseller?

Don Quixote war bei seinem Erscheinen 1605 ein großer Bestseller und verkaufte sich seitdem stetig, während William Faulkner entschieden schlecht ging, vergleicht man den dürftigen Verkauf von „Absalom, Absalom!“ (1936) mit dem des wirklichen Renners in jenem Jahr, Hervey Allens „Antonio Adverso“, einer napoleonischen Saga von Liebe, Krieg und Handel. Was bedeutet, dass es bei diesen Dingen kein Thermometer gibt, selbst wenn die Zeit nicht nur den Satz sagt: kommt Zeit, kommt Absatz.

Einige Schriftsteller erlangen große Beliebtheit und verschwinden dann für immer. Die Bestsellerlisten der letzten fünfzig Jahre sind, mit ein paar lebendigen Ausnahmen, ein düsterer Friedhof toter Bücher. Doch Dauerhaftigkeit ist kein absichtliches Unternehmen. Plato rückt Unsterblichkeit in die richtige Perspektive, wenn er feststellt, dass Ewigkeit, falls sie sich bewegt, Zeit wird, da Ewigkeit eine Art eingefrorener Zeit ist. Und William Blake bringt die Dinge gewiss auf die Erde herab: Ewigkeit ist in die Werke der Zeit verliebt.

Milan Kundera beruft sich in seinem jüngsten Buch „Der Vorhang“ auf die Tatsache, dass ein Romancier, mehr als seinem Land oder gar seiner Muttersprache, einer Tradition angehört, in der Rabelais, Cervantes, Sterne und Diderot Teil derselben Familie sind, und dass diese Familie, wie von Goethe gefordert, im Haus der Weltliteratur lebt, die jeder Schriftsteller, so legt Goethe nahe, unabhängig von Nationalliteraturen fördert, die aufgehört haben, irgendetwas von Bedeutung darzustellen.

Wenn dies stimmt, dann umfassen alle großen Werke der Literatur sowohl die Tradition, der sie entstammen und zu der sie beitragen, als auch die Neuschöpfung, die ebenso auf dem Vorrang vor der Tradition beruht, wie die Tradition ihrerseits – damit sie bei guter Gesundheit bleibt – auf die Neuschöpfungen angewiesen ist, die sie nähren. Da dies das Jahr des vierhundertsten Jubiläums des Don Quixote ist, und da ich Cervantes’ Buch als den grundlegenden Eckpfeiler des Romans ansehe, gestatten Sie mir, in ihm das von mir verwendete Vokabular zu verwurzeln.

Cervantes gehört einer Tradition an, über die er nicht sprechen kann. Dies ist die Tradition des Erasmus von Rotterdam, des Leitsterns der frühen spanischen Renaissance am Hofe des jungen Karl V., einer Leuchte, die bald durch die kalten dogmatischen Winde der Gegenreformation ausgelöscht wird. Nach dem Konzil von Trient wurden Erasmus und seine Werke von der Inquisition mit dem Bann belegt, sein Vermächtnis wurde zum Geheimnis. Cervantes war von dieser verbotenen Philosophie durchdrungen. Erasmus suchte nach einer Versöhnung zwischen Glauben und Vernunft, wobei er nicht nur die Glaubensdogmen ablehnte, sondern auch die Dogmen der Vernunft. Daher musste Cervantes, der ein Schüler der spanischen Anhänger des Erasmus war, seine geistige Verwandtschaft verbergen.

Das Lob der Torheit ist das Lob Don Quixotes, der durch ein erasmisches Universum wandert, in dem alle Wahrheiten zweifelhaft sind, alles in Ungewissheit getaucht ist; und somit erlangt der moderne Roman sein Geburtsrecht. Da Cervantes den befreienden Einfluss des erasmischen Denkens nicht eingestehen kann, geht er einen Schritt über Erasmus hinaus: Die Weisheit von Rotterdam wird zur Torheit von La Mancha und die Hochzeit der sagesse (Weisheit) und der incertitude (Ungewissheit) bringt den Roman hervor, wie wir ihn verstehen.

Orte, Namen, Autorschaft, alles ist ungewiss in „Don Quixote“. Und Ungewissheit wird verstärkt durch die von Cervantes bewerkstelligte große demokratische Umwälzung, welche den Roman als einen Gemeinplatz erschafft, als lieu commun, lugar común, das heißt, als Versammlungsort der Stadt, als die zentrale plaza, das polyforum, den public square, wo jeder ein Recht hat, gehört zu werden, doch keiner das Recht zu ausschließlicher Rede hat.

Dieses Leitprinzip der Romanschöpfung wird von Cervantes in das verwandelt, was Claudio Guillén einen Dialog der Genres nennt. Sie alle treffen sich in dem offenen Raum von Don Quixote. Hier gibt das Pikareske – Sancho Pansa – dem Epischen – Don Quixote – die Hand. Hier ist die Geradlinigkeit der Erzählung zusammengebrochen, umzingelt, rasch weiter vorangetrieben oder umgekehrt, eingewoben in den Teppich eines Romans, der sich schließlich selbst sowohl als die Identität und als auch als die Differenz seines sprachlichen Universums vorstellt.

Religion ist dogmatisch. Politik ist ideologisch. Vernunft muss logisch sein. Aber Literatur hat das Vorrecht, doppelsinnig zu sein. Die Zweifelhaftigkeit in einem Roman, die Ungewissheit über Autorschaft (und damit Autorität) und die Zulässigkeit vieler Erklärungen, ist vielleicht eine Methode, uns zu sagen, dass es mit der Welt ebenso bestellt ist. Wirklichkeit ist nicht fixiert, sie ist veränderlich. Wir können uns der Wirklichkeit nur annähern, wenn wir nicht vorgeben, sie ein für allemal zu definieren. Die von einem Roman vorgeschlagenen Teilwahrheiten sind eine Schutzwehr gegen dogmatische Zumutungen. Fiktion ist, von Rabelais und Cervantes bis Grass und Goytisolo und Gordimer, eine andere Methode, die Wahrheit zu befragen, da wir, durch das Paradoxon einer Lüge, nach ihr streben.

Diese Lüge kann Einbildungskraft genannt werden. Sie kann auch als eine Parallelwirklichkeit gesehen werden. Sie kann als ein kritischer Spiegel für das betrachtet werden, was in der Welt der Konvention als Wahrheit gilt. In „Don Quixote“ so schrieb Dostojewski, wird die Wahrheit durch eine Lüge gerettet. Mit Cervantes begründet der Roman sein Geburtsrecht durch eine Lüge, die das Fundament der Wahrheit ist. Denn durch das Medium der Fiktion stellt der Romancier die Vernunft auf die Probe. Die Fiktion erfindet, was der Welt fehlt, was die Welt vergessen hat, was sie zu erlangen hofft und vielleicht nie erreichen kann.

Wir sind uns der Gefahr bewusst, dass sich mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts die menschliche Tagesordnung verschiebt. Militärausgaben überschreiten bei weitem die Investition in Gesundheit, Erziehung und Entwicklung. Die dringenden Forderungen der Frauen, der Alten, der Jugend sind dem Zufall überlassen. Die Vergehen gegen die Natur vervielfachen sich. Im Himmel, schrieb Borges, sind Bewahren und Erschaffen gleichbedeutende Wörter. Auf der Erde sind sie Feinde geworden.

Um die grundlegenden Ursachen des Terrors kümmert man sich nicht. Die Antwort auf Terror kann nicht Terror sein, sondern eher größere Intelligenz, demokratische Kontrolle, sozio-ökonomische Entwicklung und die Stärkung der kulturellen Identität in Staaten, die lange einer autoritären und kolonialen Herrschaft unterworfen waren. Internationale Werte, die durch kritische Beharrlichkeit und Verzicht errungen wurden – Menschenrechte, Diplomatie, Multilateralismus, Vorrangstellung des Gesetzes –, werden durch die blinde Hast von Unilaterismus, Präventivkrieg und den blinden Stolz angegriffen, der „vor dem Fall kommt“ (Sprüche Salomos, 16, 18). Unsere Antwort auf diese Wirklichkeiten ist manchmal passive Glückseligkeit. Es gibt diejenigen, die glauben, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, weil ihnen gesagt worden ist, dass das Unbedingte unmöglich sei.

Doch andererseits befällt uns die aufgeregte, obgleich passive Angst vor einer versteckt lauernden Apokalypse, die dann eintritt, wenn, wie Goethe es sinngemäß sagte, Gott aufhöre, seine Geschöpfe zu lieben, und alles zerstören und ganz wieder von vorne beginnen müsse. Der Raum hat kapituliert. Dank dem Bild können wir auf der Stelle überall sein. Die Zeit hat sich verpulvert und ist in Bilder zerbrochen, die Gefahr laufen, uns sowohl die Imagination der Vergangenheit als auch das Gedächtnis der Zukunft zu verwehren. Wir können die Sklaven hypnotischer Bilder werden, die wir uns nicht ausgesucht haben. Wir können vergnügte Roboter werden und uns zu Tode amüsieren.

Ich meine, dass diese Wirklichkeiten uns bewegen sollten, zu bekräftigen, dass die Sprache das Fundament der Kultur ist, die Tür der Erfahrung, das Dach der Vorstellungskraft, der Keller des Gedächtnisses, das Schlafzimmer der Liebe und, vor allem, das Fenster, das der Luft des Zweifels und des Fragens offen steht. In allen großen Romanen entdecke ich ein menschliches Vorhaben – gleich ob man es Leidenschaft, Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit nennt, das uns zu seiner Verwirklichung einlädt, selbst wenn wir wissen, dass es zum Scheitern verurteilt ist.

„Zwischen Schmerz und Nichts wähle ich den Schmerz“, so der berühmte Ausspruch Faulkners; und er fügte hinzu: „Der Mensch wird sich behaupten.“ Und ist dies nicht vielleicht die Wahrheit des Romans? Die Menschheit wird sich behaupten, weil uns der Roman, trotz der Unglücke der Geschichte, sagt, dass die Kunst das Leben in uns wiederherstellt, das von der Hast der Geschichte missachtet wurde. Die Literatur macht wirklich, was die Geschichte vergaß. Und weil die Geschichte das Gewesene war, wird die Literatur das anbieten, was die Geschichte niemals gewesen war. Daher werden wir niemals Augenzeugen des Endes der Geschichte sein – außer es käme die Weltkatastrophe. Man vergleiche William Faulkners Worte mit den unausgegorenen Vorstellungen vom Ende der Geschichte und dem Zusammenstoß der Kulturen.

Ich spreche als ein Schriftsteller in der spanischen Sprache von einem Kontinent, der iberisch, indianisch und mestizisch ist, der schwarz und mulattisch ist, atlantisch und pazifisch, mediterran und karibisch, christlich, arabisch und jüdisch, griechisch und lateinisch. Wenn ich den vollbrachten Leistungen, aber vor allem den Zielsetzungen, den erreichten Zielen ebenso wie den Möglichkeiten meiner eigenen Kultur, getreu bin, kann ich nicht gelten lassen, dass wir in einem Zusammenstoß der Kulturen leben. Weil all diejenigen, die ich heraufbeschworen habe, die meinigen sind und nicht zusammenstoßen, sondern reden, miteinander sprechen, disputieren, um zu verstehen, und, in meiner Seele gar, die Relativität von triumphaler Haltung und Niedergeschlagenheit zugleich mitteilen, die Notwendigkeit, das zu wagen, was nie untergehen wird, selbst wenn es den Rückzug angetreten hat – meine alten indianischen und islamischen Kulturen. Und sich das zu erwerben, was sich selbst als dauerhaft denkt – die westlichen, christlichen Züge meines Seins, jenseits ihrer gegenwärtigen Befähigung – und den Versammlungsort von ihnen allen zu feiern, den Ort des Sprechens und Denkens und des Gedächtnisses und der Einbildungskraft, den jeder von uns, ob Mann oder Frau, mit sich trägt und der uns bittet, an einem Dialog der Zivilisationen teilzuhaben und das Ende der Geschichte abzustreiten. Denn wie kann Geschichte enden, solange wir nicht unser letztes Wort gesprochen haben?

Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. Fuentes hielt diese Rede (hier in gekürzter Version) gestern im Haus der Berliner Festspiele.

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