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Kultur: Der Montagsschreiber wird zum Sonntagsdichter

In den letzten Jahren hat sich in der deutschen Literatur ein Quantensprung ereignet. Was früher ein ununüberbrückbarer Gegensatz zu sein schien - der Kritiker auf der einen, der Schriftsteller auf der anderen Seite -, mündet in Versöhnung und Rollentausch.

In den letzten Jahren hat sich in der deutschen Literatur ein Quantensprung ereignet. Was früher ein ununüberbrückbarer Gegensatz zu sein schien - der Kritiker auf der einen, der Schriftsteller auf der anderen Seite -, mündet in Versöhnung und Rollentausch. Ein Journalist, der einen Roman schreibt, wird heute nicht mehr verhöhnt, sondern umarmt und gehätschelt.

Diese Entwicklung hat sich binnen kürzester Zeit vollzogen. Es liegt noch gar nicht so lange zurück, da haben profilierte Kritiker wie Fritz J. Raddatz, Peter von Becker oder Hellmuth Karasek mit Romanen versucht, die spezifisch deutsche Kluft zwischen Kritiker und Schriftsteller zu überwinden. Aber der alte deutsche Kulturreflex war nach wie vor da: Die Romane wurden zum Teil heftig verrissen, und es mischte sich fast immer ein besonders spitzer Ton darunter, der dem Journalisten galt, der da eine unerlaubte Grenze überschritten habe. In anderen, vor allem in den angelsächsischen Ländern gab es diese strikte Trennung nicht: Da wechselten die Autoren spielerisch vom lyrischen ins kritische, vom essayistischen ins erzählende Fach. Der deutsche Sonderweg mag an der besonderen Weihe liegen, die das Literarische im Bildungsbürgertum erhalten hatte, mit der Trennung von Künstlertum und Politik, Träumern und Pragmatikern. Und mit der Position des Kritikers, des Zuchtmeisters und im Idealfall unabhängigen Richters - auch dies ein Typus, der sich unter den speziellen deutschen Bedingungen herausgemendelt hatte und zum einen etwas mit einer Sehnsucht nach Autorität, zum anderen etwas damit zu tun hat, die Literaten fest im Reich der Phantasie und der Ideale gebannt zu halten, aus dem man sie nur an hohen Festtagen und unter besonderer Aufsicht entlässt.

In den Verlagsprogrammen der letzten drei, vier Jahre wimmelt es nun aber von deutschen Debütanten, bei denen mit ihrer journalistischen Praxis geworben wird. Selbst Attribute wie "Redakteur im Hamburger Jahreszeiten-Verlag" werden in Klappentexten renommierter Verlage wie Kiepenheuer & Witsch schon als Qualitätsmerkmal gehandelt. Die Rahmenbedingungen scheinen sich grundlegend geändert zu haben. Der deutlichste Ausdruck dafür ist der Erfolg der Romanautorin Elke Schmitter. Sie war schon länger als brillante Journalistin hervorgetreten, geschätzt bei "Zeit", "Süddeutscher", Tagesspiegel oder "taz" - aber als vor zwei Jahren der Roman "Frau Sartoris" erschien, überschlugen sich die Kollegen vor Begeisterung, allen voran der große Fernsehkritiker. Vielleicht steht Elke Schmitter nun für eine Zäsur.

Im Laufe der achtziger Jahre war die deutsche Literatur endgültig in eine Sackgasse geraten. Die deutschen Autoren galten als schwierig und überambitioniert, in den Feuilletons feierten amerikanische Autoren wie John Updike oder Philip Roth Triumphe. Es dauerte nicht lange, und alle deutschen Verlagsprogramme übertrafen sich im Spekulieren mit US-amerikanischen Gegenwartsautoren, die noch richtig spannend erzählen könnten, wo es noch richtige plots gäbe und wo die Dialoge stimmten. In den New Yorker Verlagshäusern kicherten die Angestellten bald, dass jetzt wieder die verrückten Deutschen kämen, die jeden Preis bezahlten.

Als die US-Lizenzen für die deutschen Verlage schlicht nicht mehr tragbar wurden, war aber auch die deutsche Einheit vonstatten gegangen, und man dachte neu über das Deutsche nach. Es ist kein Zufall, dass just zu diesem Zeitpunkt die ersten Verlagslektoren sich anschickten, nach einer jungen, unverbrauchten deutschen Gegenwartsliteratur zu suchen. Die wäre billiger im Einkauf als die amerikanische. Der damalige Lektor beim S.Fischer-Verlag, Uwe Wittstock, machte 1993 mit seinem "Couchtisch" von sich reden: Da liegen also, schrieb er, die Fernbedienung für den Fernseher, die Fernbedienung für den CD-Player, eine Illustrierte, eine weitere Illustrierte, ein Hochglanzmagazin und das neueste Video - und daneben auch noch irgendwie ein Buch. Wie muss dieses Buch beschaffen sein, so die rhetorische Frage Wittstocks an seinem Couchtisch, damit der durchschnittliche Benutzer das Buch ergreife und nicht die diversen anderen Optionen?

Dem Lektor ging es natürlich vor allem um Verkäuflichkeit und nicht um literarische Kriterien, aber es glückte ihm, seine Thesen auch als literaturkritische auszugeben. Die Grenzüberschreitungen waren schon in vollem Gang. Es entspann sich dann tatsächlich eine Debatte über das "Vergnügen" an der Literatur sowie die obsoleten Schranken zwischen "E"- und "U"-Literatur, eines der langweiligsten deutschen Themen überhaupt. Man begann, an einem Strang zu ziehen: Verlage mit ihrem Verkaufsinteresse, Journalisten mit ihrem Gespür für in der Luft liegende Themen - und Agenten, die plötzlich auf den Plan traten, weil sie witterten, dass die Zeit jetzt reif sei.

Durch die explosionsartige Entwicklung der Medien hatte sich die alte Unterscheidung zwischen Primär und Sekundär aufzuheben begonnen. Die neuen Möglichkeiten des Fernsehens und des Printmarkts, die neuen Magazine und der neue Hochglanz entwickelten eine Form von Kreativität, die für sich zu stehen schien; "Tempo" war da tatsächlich noch einmal eine Art Avantgarde. Autoren wie Maxim Biller oder später Christian Kracht repräsentierten einen neuen Typus, sie machten durch Kolumnen, Dandytum und den Gestus des Schriftstellers auf sich aufmerksam, und ein aktuelles Medientalent wie Benjamin von Stuckrad-Barre profitiert davon. Das Geld verdient man überwiegend nicht mit Romanen, aber die Berufsbezeichnung "Schriftsteller" gibt erst den nötigen Kick, um an die wirklich lohnenden Medienpfründe heranzukommen: gutbezahlte Kolumnen in einschlägigen Magazinen und Illustrierten, Fernsehen, Pop-Darstellung in den entsprechenden Locations.

Diese Autoren schienen zunächst noch relativ deutlich von den traditionellen Schriftstellern unterscheidbar zu sein, die auf althergebrachte Weise Romane veröffentlichten und in den Medien bloß deswegen auftraten, um über diese Werke zu sprechen. Spätestens mit dem Medienphänomen "Kumpfmüller" war allerdings die Veränderung des Literaturbetriebs offenkundig: hier wurde zum ersten Mal ein neues Zusammenspiel zwischen Verlagen, Agenturen und Journalisten geprobt. Die Literaturagenturen sprachen seit Mitte der neunziger Jahre gezielt Journalisten an, ob sie nicht auch Interesse hätten, einen Roman zu schreiben. Im sich anbahnenden Boom deutscher Gegenwartsliteratur schienen vor allem Autoren, die durch die Schule des Printjournalismus gegangen waren, geeignet, die Endmoränen der Moderne, das Zweifeln an der Sprache, das Ringen um den Ausdruck endlich hinter sich zu lassen und wieder richtig in die Vollen zu gehen: lebensprall, unterhaltsam, satt.

So lieferte auch der Reportagen- und Glossenschreiber Michael Kumpfmüller im Jahre 1999 seinen Roman ab, und er hatte, mit dem journalistischen Gespür für Themen, genau das abgedeckt, was man gerade haben wollte: deutsch-deutsche Geschichte, von den fünfziger Jahren bis in die Gegenwart, schwungvoll, launig und auch ein bisschen ambitioniert. Die Fama vom ungeheuren Vorschuss, den die Agentur vom Verlag für dieses Manuskript herausgehandelt hatte, verbreitete sich in Journalistenkreisen ganz rasch, ein richtiges Netzwerk war auszumachen, das da von der Agentur aus gespannt wurde, und so überraschend war es deswegen nicht, dass vor allem die FAZ auf Biegen und Brechen versuchte, diesen Roman zum übergroßen Gesamtkunstwerk zu verklären. Es gab einen ziemlich großen Wirbel, aber der legte sich dann auch wieder recht schnell. Erinnert sich eigentlich noch jemand, wie der Roman von Michael Kumpfmüller hieß? Das ist fast schon die 32 000-Euro-Frage.

Elke Schmitter hat in ihrem zweiten Roman "Leichte Verfehlungen", der dieser Tage erschien, ein hübsches Genrebild von der Veränderung des Literaturbetriebs speziell in der deutschen Hauptstadt gezeichnet: "Aus Jeansträgern, die resignierten Blicks, ein wenig zynisch, mit Verläßlichkeit aber ironisch, am Rande der Gesellschaft standen, Weinglas und Zigarette in den Händen, in langsame Gespräche eher verloren als vertieft, waren nun geschmeidige Figuren in grauen Anzügen geworden, die, eine Hand in der Hosentasche, durch Versammlungen wie diese glitten, ein sparsames oder auch verschwörerisches Lächeln in halbgefrorener Bereitschaft auf den Lippen."

Die Autorin hat mit dieser atmosphärischen Fallstudie auch die Umstände ihres eigenen Erfolgs mit eingefangen. War "Frau Sartoris", ihr gefeierter Erstlingsroman, noch eine recht sauber durchgeführte Fingerübung ohne größeres Risiko - überschaubarer Rahmen, 50er bis 70er Jahre, Provinz - wagt sich "Leichte Verfehlungen" mitten ins gegenwärtige Berliner Kulturmilieu, ein Konversations- und Gesellschaftsroman, der irgendwo zwischen Theodor Fontane, Vicky Baum und Gabriele Tergit zu irrlichtern scheint. Die Qualitäten dieses Romans sind unübersehbar - es sind die Qualitäten einer Gesellschaftsreportage, einer Seite Drei-Geschichte, eines Zeit-Porträts 40-jähriger Frauen aus dem akademischen Milieu - mitleidlose und analytische Beobachtungen, aber doch mit einer beträchtlichen Portion Einfühlungsvermögen.

Es besteht kein Zweifel: Elke Schmitters Roman ist besser als die synthetische Stipendiatenprosa, die der deutsche Literaturbetrieb seit den achtziger Jahren im Durchschnitt hervorbringt. Da ist ein Bogen geschlagen zu angelsächsischen und französischen Tugenden, zum espritvollen Erzählen, zum Beherrschen von Dialogen. Das erhebt ihn über die meisten der aktuellen Versuche, Journalismus als Literatur zu verbrämen.

Es fehlt allerdings etwas. Es fehlt die Dimension der Sehnsucht, das genuin Literarische, die Gegenwelt zur Zeitungs- und Alltagssprache. Eine Sprache also, die anders ist, dies aber zwangsläufig so sein muss: weil sie etwas ausdrückt, was nur in dieser Sprache ausgedrückt werden kann und nicht in der gewohnten. Der Moment des "Chocs" (Walter Benjamin), des "Tangos" (Rolf-Dieter Brinkmann), der "Axt" (Kafka), der Irritation (Emil Staiger, Adorno, Derrida et al.). Schmitters Roman ist in einer Sprache geschrieben, die zwar von heute, aber auch von gestern ist. Ulrich Peltzers "Bryant Park" dagegen, der in diesem Frühjahr rigideste Versuch, für das Gegenwartsbewusstsein eine literarische Form zu finden, bewegt sich radikal im Jetzt. Vermutlich wird er gerade deswegen auch in einigen Jahren noch in Erinnerung sein. Das ist das Paradoxon der Literatur. Sie wird auch ihren gegenwärtigen Boom überleben.

Helmut Böttiger

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