zum Hauptinhalt

Kultur: Der Mord und das Mal

Eine Schuld, die sich nicht sühnen lässt: Strafgefangene spielen in der JVA Tegel „Kain und Abel“.

Telefon, Portemonnaie, alles, was man in den Taschen hat, kommt in ein Schließfach. Hinter der ersten Tür bittet ein Herr zum Abtasten in eine Umkleidekabine, der Ausweis wird gegen eine Besucherkarte getauscht. Warten vor einer zweiten Tür am Ende eines langen Gangs, dann wird das Besuchergrüppchen über einen Hof geführt. Auf einer Rasenfläche steht ein Schild mit einem Pfeil: Zum Teich. Ist das Gefängnisironie? Der Tümpel liegt nur fünf Schritt entfernt, überzogen von einem grobmaschigen Netz. JVA Tegel, größte Justizvollzugsanstalt Deutschlands, Backsteinbauten vom Anfang des 19. Jahrhunderts, aus deren Mitte die Türme einer Kirche in den trüben Himmel ragen. Zwei Männer hinter einem vergitterten Fenster beobachten lachend die Gäste, und selbst die Beamten im Hintergrund schauen ein wenig feierlich, als sei diese Premiere auch irgendwie ihre Sache.

Gegeben wird „Kain und Abel“. Die Geschichte des ersten Mordes der Menschheitsgeschichte, zumindest in der Version der Bibel. Gott zieht die Opfer des Schäfers Abel denen des Bauern Kain vor. Die Zurücksetzung nährt in Kain den Groll. Er erschlägt seinen Bruder, wird von Gott verstoßen – aber durch das Kainsmal auch davor geschützt, selbst getötet zu werden.

Der begrünte Hof wird an zwei Seiten von dreistöckigen Baracken begrenzt. Vor den Zuschauerbänken stehen Emporen, an denen blutverschmierte Schürzen hängen. Dazwischen erhebt sich eine seltsame Konstruktion, von der später ein kauziger Mann mit Rauschebart baumeln wird: Gott, alias Dr. Zigic. Aber erst einmal werden Regencapes gegen den einsetzenden Niesel verteilt. Wegen der langwierigen Einlassprozedur füllen sich die Reihen nur langsam. Hinter den Zellenfenstern sieht man Männer. Stehend oder auf das Fensterbrett gestützt, schauen sie auf uns herunter. Der Regen verfärbt das riesige Holzkreuz, das zwischen Zuschauerraum und Spielfläche liegt.

„Wie lange noch?“, fragt eine Zuschauerin. „Was sind zwanzig Minuten Warten gegen fünfzehn Jahre?“, besänftigt ein Mann.

Als dann das Ensemble, zwanzig Männer in beiger Kluft, das Gelände betritt und auf den Emporen Aufstellung nimmt, wird der Bühnenbau noch sinnfälliger. Chor, Rhythmus. Regisseur Peter Atanassow, seit zehn Jahren beim Theater Aufbruch dabei, erzählt den Mythos in einer Mischung aus rituellem Mysterienspiel und kollektivem Sprechstück, das nicht nur an Einar Schleef denken lässt, sondern auch das Militärische, die Praxis der Kasernierung aufgreift.

Als erster wird Dr. Zigic am Gerüst hochzogen. Die Inthronisierung ähnelt verflixt dem Vorgang, mit dem jemand gehängt wird. Zwei Darsteller singen im strömenden Regen „What a wonderful world“, stimmgewaltig und klar, während die anderen mit dem gleichen Ernst gucken, mit dem auch ihre Bewacher schauen. Gleich geht’s zur Sache. Ein Darsteller, das lange Haar zum Pferdeschwanz gebunden, tritt vor, dann ein zweiter, ein dritter zitiert aus der Bibel – schon wird die erste Kehle durchtrennt. Gott: „Wo ist dein Bruder Abel?“ Der Chor: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Gott: „Verflucht seist du auf der Erde.“ Jeder Einzelne in ritueller Wiederholung: „Meine Schuld ist groß, größer denn ich sie tragen kann.“

Atanassow und sein Team haben eine Collage erstellt, die neben dem Bibeltext noch Passagen aus Lord Byrons „Cain“, die Geschichte „Brudermord“ von Georg Seidel und Szenen aus Goethes „Faust“ enthält – doch kommt die Aufführung in Schleifen immer wieder zur Urszene zurück, variiert sie mit wechselnden Rollen, lockert sie hin und wieder komödiantisch auf, um doch wieder bei der erschütternden Feststellung „Meine Schuld ist groß, größer denn ich sie tragen kann“ zu landen.

Jeder hat seinen Monolog, es werden Lieder gesungen, auf Türkisch, Deutsch, Romani, es wird getanzt, in jedem Moment bleibt die existenzielle Wucht spürbar, sind die Szenen gefasst in einer beeindruckenden Choreographie, in der die Kräfte immer neu gegeneinander gehetzt werden, ohne sie einer Lösung zuzuführen. Siebzig Minuten. Der Jubel ist groß.

Später, auf der Premierenfeier in einem turnhallenartigen Saal, mischt sich das Publikum unter die erleichterten Darsteller. Ein bescheidenes Buffet mit Würstchen und Cola steht bereit. Regisseur Atanassow erklärt: „Wir fragen die Darsteller nie, was sie getan haben. Sie werden hier durchtherapiert, aber bei uns müssen sie nichts sagen. Es gibt natürlich eine Ganovenehre. Die meisten wollten lieber den Täter spielen als Opfer sein.“

Bär, ein tätowierter Mann Ende Vierzig, dem die unteren Vorderzähne fehlen, hat als schwangere Eva während der Aufführung für Lacher gesorgt. Er erzählt, dass er schon seit 28 Jahren inhaftiert ist, die letzten Jahre in Sicherungsverwahrung. Ob er je entlassen wird, weiß er nicht. Er spielt schon zum vierten Mal mit. „Durchs Theaterspielen habe ich mich aus meinem Schneckenhaus getraut.“ Vor kurzem erst war er in Begleitung von zwei Beamten zum ersten Mal draußen. In Berlin. „Es war der absolute Wahnsinn. Für mich steht ja noch die Mauer.“

Wieder am 27. und 29. Juni sowie am 4., 6., 11., und 13 Juli. Karten über die Kasse der Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, Telefon 240 65 777.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false