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Kultur: Der Name des Horrors

„Osama“-Regisseur Siddiq Barmak über Heimat, Exil und den vorsichtigen Aufbruch des Kinos in Afghanistan

Überall in Kabul sieht man Ruinen ehemaliger Kinos. Mittlerweile sind zwar wenige wieder in Betrieb, aber viele Filmvorführungen finden im geschlossenen Kreis statt. Wie geht es dem Kino heute in Afghanistan?

Als die Taliban 1997 an die Macht kamen, schlossen sie die Kinos – so wie sie auch Fotos, Musik und Fernsehen verboten. Damals verließen die meisten unserer Filmleute das Land. Auch ich – nachdem sie mich zwei Wochen festgesetzt hatten, nur weil ich Filmemacher war. Als ich letztes Jahr zurückkam, hatten meine frühreren Freunde und Kollegen alle ihre Identität verloren. Sie sahen sich nicht mehr als Filmemacher. Dann ergab sich die Möglichkeit, ein paar Kurzfilme zu drehen mit Hilfe des afghanischfranzösischen AINA-Netzwerks, und wir knüpften wieder an unsere 40 Jahre Erfahrung mit mobilem Kino in Afghanistan an. Wir schickten diese Kurzfilme über Land, und wir sahen, wie ältere Leute, Kinder und Frauen zum ersten Mal nach so vielen Jahren wieder lachten.

Wovon handelten diese Kurzfilme?

Es geht um Gesundheitserziehung, darum, wie man sich vor Landminen schützt, darum, wie man eine Nation werden kann nach all diesen Katastrophen. Zusätzlich haben wir frühe Komödien gezeigt, Stummfilme von Buster Keaton zum Beispiel.

Was haben Sie getan in der Zeit, als Sie nicht in Kabul waren?

Ich war drei Jahre im Norden Afghanistans, außerhalb der Reichweite der Taliban. Einen kurzen Dokumentarfilm hab ich in dieser Zeit gedreht, dann bin ich nach Tadschikistan gereist, um mit Freunden einen Spielfilm zu drehen, aber für Afghanen ist es schwer, in Tadschikistan kulturelle Projekte zu verfolgen. Dann bin ich nach Pakistan ins Exil gegangen, wie so viele von uns. Ich fand einen Job bei der BBC, als Schauspieler und Regisseur – aber ich wollte unbedingt einen Film machen.

„Osama“ ist der erste Film eines Afghanen, der in Afghanistan nach den Taliban gedreht wurde und bekam in Cannes gleich mehrere Preise. Was bedeutet dieser Film für Sie?

Ich will das Desaster und das Leiden meines Volkes unter den Taliban zeigen. Diese Tragödie trifft die ganze Welt – das hat der 11. September gezeigt. Fundamentalismus gibt es nicht nur in islamischen Gesellschaften, sondern auch in christlichen, jüdischen, buddhistischen, hinduistischen Gesellschaften. Wenn wir nicht vorsichtig sind, kann er auch in Demokratien Fuß fassen.

In „Osama“ verkleidet sich ein Mädchen als Junge, um für seine Familie den Lebensunterhalt zu verdienen. Ist so etwas wirklich vorgekommen unter den Taliban?

In Pakistan suchte ich Stoff für einen Kurzfilm, und dann fand ich einen in einer afghanischen Zeitung in Peshawar. Ein Lehrer aus Kabul erzählte von einem kleinen Mädchen, das unbedingt zur Schule gehen wollte, aber die Taliban hatten das ja verboten. Und so beschloss sie, ein Junge zu werden. Sie schnitt ihr Haar ab, auf das sie stolz war, und zog sich an wie ein Junge. Leider wurde sie bald von den Taliban enttarnt, und der Direktor der Schule wurde festgenommen. Ich begann, an der Geschichte zu schreiben, aber bald war klar, das würde ein ausgewachsener Spielfilm werden. Unmöglich, das in Pakistan zu drehen, denn Pakistan unterstützte die Taliban. Später in Afghanistan dann erzählte ich dem iranischen Regisseur Mohsen Makhmalbaf von dem Projekt, und er war so bewegt, dass er versprach, mir finanziell und technisch unter die Arme zu greifen.

Wie wurde „Osama“ in Afghanistan aufgenommen?

Wir haben ihn zwei Wochen lang in drei Kinos gezeigt. Die jungen Leute im Publikum waren sehr bewegt. Manche sagten mir, dass sie ihren eigenen Schmerz und ihre Tragödie jetzt erst in ganzer Tiefe empfänden.

Warum heisst der Film „Osama“?

Es gibt darin keine Personennamen, die Figuren sprechen sich nur mit „Mutter“ oder „Vater“ an. Nur einmal nennt ein Junge, der das Mädchen beschützen will, sie „Osama“ – er denkt, das ist der Name des Horrors selbst. Denn wenn jemand ihr etwas antun will, wird ihn dieser Name abschrecken. Da war mir klar: Das ist mein Titel. Unter den Taliban verloren die Leute ihre Persönlichkeit, sie hatten keine eigenen Namen, keine kulturelle, politische Identität mehr. Und wer war für all das verantwortlich?

Wie haben Sie Ihre Titelheldin, Marina Golbahari, gefunden?

Ich suchte überall nach meiner Hauptdarstellerin, in Schulen, Waisenhäusern, Zentren für Straßenkinder, in Flüchtlingslagern. Als ich schon die Hoffnung verloren hatte, da bettelte mich, vier Tage vor Drehbeginn, ein Mädchen auf der Straße an, und ihre unglaublichen Augen erzählten mir ihre Geschichte in einer Sekunde. Da wusste ich, das ist meine Hauptdarstellerin. Sie hatte noch nie einen Film gesehen und auch kein Fernsehen, sie haben keinen Fernseher daheim. Aber dann war es, als ob sie nie etwas anderes getan hätte als filmen.

Wie hat sich ihr Leben seitdem geändert?

Sie will Schauspielerin werden, sie geht zur Schule, in die zweite Klasse, daran hatte sie zuvor nie gedacht. Sie hat ein Haus gekauft, nicht besonders groß oder toll, aber ihres. Sie will nicht mehr betteln gehen, sondern sich ein anderes Leben erarbeiten – und ich bin sicher, sie schafft es.

Das Gespräch in Kabul führte Ruth Fühner.

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