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Zwischen den Fronten. Demonstranten am 25. Juli in Berlin, als Protest gegen anti-israelische Kundgebungen am Al-Kuds-Tag.

© dpa

Der neue Antisemitismus in Europa: Aufstand und Anstand: Nie wieder Judenhass!

Es gibt eine neue Welle des Antisemitismus in Europa. Aus Frankreich sind einige tausend Juden emigriert, in Deutschland wurden Synagogen angegriffen. Doch die Sorge darf nicht zum Alarmismus werden. Ein Kommentar.

Der jüngste Gaza-Krieg hat zu weltweiten Protesten geführt, vor allem gegen die israelische Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Aber nicht überall ist es bei friedlichen Kundgebungen geblieben. Juden oder Menschen, die für Juden gehalten wurden, sind ebenso wie jüdische Institutionen in zahlreichen Ländern attackiert worden. Mit Gewaltakten oder Schmähungen, die durch nichts zu rechtfertigen sind.

Die legitime Kritik an der gegenwärtigen israelischen Regierung ist zu unterscheiden von generellen Ressentiments gegen den Staat Israel – dem Juden, palästinensische Muslime und Christen sowie hunderttausende nichtreligiöse Bürger angehören. Von solch „antizionistisch“ formulierten Ressentiments ist die Grenze dann oft fließend zu rassistischen Pauschalisierungen: zum Antisemitismus. Das zu wissen, möchte man denken, ist unter denen, die gerade in Deutschland denken (und mitfühlen) können, eine Selbstverständlichkeit.

Nun aber ruft der Zentralrat der Juden in Deutschland unter dem Motto „Steh auf! Nie wieder Judenhass!“ zu einer großen Demonstration in Berlin auf. Am kommenden Sonntag um 15 Uhr wird vorm Brandenburger Tor die Bundeskanzlerin reden, dazu Dieter Graumann als Präsident des Zentralrats sowie Kardinal Reinhard Marx und Nikolaus Schneider als Spitzen der deutschen Katholiken und Protestanten. Auch der Bundespräsident hat sich angesagt, mehrere Bundesminister und alle Parteien des Bundestags.

Braucht es diesen politisch so massiv unterstützten Aufstand der Anständigen? Wenn sich Juden in Deutschland dadurch sicherer und in ihrer Würde bestätigt fühlen, dann hätte die gut gemeinte Veranstaltung gewiss einen Sinn. So denkt wohl auch der Zentralrat, in Sorge um seine Mitglieder. Der Aufruf ans Brandenburger Tor hat indes auch einen sehr dramatischen Oberton. Es gehe darum, „sich einer Welle von Hass auf Juden entgegenzustellen“. Da schwingt etwas mit, was nicht unbedingt zur Besonnenheit beiträgt. So wenig, wie Graumanns viel zitierte Äußerung gegenüber dem Londoner „Guardian“, dass dies „die schlimmsten Zeiten seit der Naziära“ seien.

Eine Ausreisewelle von Juden gibt es vor allem in Frankreich

Tatsächlich ist es schlimm: wenn es Anschläge auf Synagogen wie in Wuppertal gibt oder Übergriffe auf Israel-Sympathisanten, die vielleicht nicht alle für Netanyahus Kriegs- und Okkupationspolitik, aber gegen die täglichen Raketen der Hamas auf israelische Zivilisten demonstrierten. Und zum obszönen Geschrei einiger weniger zumeist arabisch stämmiger Berliner Demonstranten, die etwas von „feigen Judenschweinen“ gegrölt und „Hamas“ auf „Juden ins Gas“ gereimt haben, ist schon alles gesagt worden. Von allen maßgeblichen Politikern, Publizisten und Polizisten. Mit aller Empörung.

Warum aber glaubt der Zentralrat so sehr betonen zu müssen: „Wir sind da! Und wir bleiben da!“ Es klingt, als säßen (sonst) viele deutsche Juden schon wieder auf ihren gepackten Koffern. Wobei man dazu sagen muss, dass Dieter Graumann, obwohl er im „Guardian“ so ausdrücklich auf Deutschland und die Nazizeit Bezug nahm, hinzugefügt hat, dass es sich beim „Ausbruch von Hass gegen Juden“ nicht nur um ein deutsches Phänomen handle.

Wirklich gibt es keine Ausreisewelle deutscher Juden, anders als etwa in Frankreich. Angesichts der Aggressionen vornehmlich in den prekären, mehrheitlich arabisch-muslimischen Großstadt-Banlieus sind zuletzt mehrere tausend französische Juden nach Israel oder in andere Staaten emigriert. Wer allerdings in den letzten Wochen etwa in die „Jüdische Allgemeine“, eine wichtige, vom Zentralrat herausgegebene Wochenzeitung geschaut hat, den muss es gruseln. Gedruckt oder online ist von einer „Explosion des Antisemitismus“ die Rede, vom „Mob“ auf den Straßen und im Internet. Gemeint ist der „offen ausgetragene Judenhass in Europa“, aber Adressat sind doch die deutschen Leser, manche noch Überlebende des Holocaust oder deren Angehörige.

Berlin: Einst Epizentrum des Holocaust nun beliebt bei jungen Israelis

Zwischen den Fronten. Demonstranten am 25. Juli in Berlin, als Protest gegen anti-israelische Kundgebungen am Al-Kuds-Tag.
Zwischen den Fronten. Demonstranten am 25. Juli in Berlin, als Protest gegen anti-israelische Kundgebungen am Al-Kuds-Tag.

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Tatsächlich hat das amerikanische „Newsweek“-Magazin vor sechs Wochen als Titelbild eine junge Frau mit dem Koffer in der Hand gezeigt, mit der Schlagzeile:„Warum Europas Juden wieder fliehen“. Die Geschichte des neuen „Exodus“, die sich in konkreten Zahlen fast nur auf Frankreich stützt, wo der rechtsradikale Front National bei den Europa-Wahlen zur stärksten Partei wurde, preist freilich als Gegenbeispiel das neue „jüdische Leben in Berlin“. Das einstige „Epizentrum des Holocaust“ sei zu einem „Zentrum der jüdischen Renaissance“ geworden, außer russischen Einwanderern gebe es „eine wachsende Zahl von Israelis, die deutsche Pässe beantragen“. Neben der bei der hippen Tel Aviver Jugend so beliebten deutschen Hauptstadt nennt „Newsweek“ allerdings auch Budapest als entsprechende Blütestadt, offenbar ungeachtet der offen antisemitischen Politiker aus Ministerpräsident Orbans Regierungspartei und etlicher nationalistisch-rassistisch intonierender ungarischer Medien. Andererseits werden Studien in der EU erwähnt, die ein Ansteigen judenfeindlicher Meinungen und Delikte vor allem in Frankreich, Ungarn und Belgien registrieren.

Eine gleichfalls zitierte Umfrage im Auftrag der Anti-Defamation League (ADL) hat zwischen Juli 2013 und Februar dieses Jahres 53 000 Menschen ab 18 Jahren in 102 Ländern zu latent oder offen antisemitischen Vorurteilen befragt (etwa: „Haben Juden zu viel Einfluss in Wirtschaft und Politik?“). Bei allem Vorbehalt gegen die Validität der zumeist nur telefonisch geführten Interviews: Die Ergebnisse dieser ersten weltweiten Erhebung wirken, auch verglichen mit anderen Detailstudien, ziemlich glaubwürdig. Während im arabischen Nahen Osten Vorurteile gegen Juden mit Zustimmungsquoten zwischen 70 und 90 Prozent geteilt werden, sind es in Westeuropa 24, in Osteuropa 34 Prozent. Griechenland führt hier mit unrühmlichen 69 Prozent, Polen zeigt 45, Ungarn 41, Frankreich 37 und Deutschland 27 Prozent.

Im Internet ist der Stammtisch noch enthemmter, ganz ohne Promille

Auch die Bundestagsverwaltung hat auf Grund diverser Umfragen die Einschätzung verbreitet, „etwa jeder fünfte Deutsche ist latent antisemitisch“. Nun ist jeder Rassist eine Schande. Aber es gibt auch das andere Dreiviertel. Und es entspricht allen langjährigen Einschätzungen, dass es in jeder Bevölkerung etwa 20 bis 25 Prozent Menschen mit mehr oder weniger starken Vorbehalten gegen Minderheiten (nicht nur Juden) gibt: Unbelehrbare, rational oft nicht erreichbar. Denn Antisemitismus, der auch in Kulturen ohne Juden existiert, entspricht einer Paranoia, das haben nicht nur Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ beschrieben. Es ist der alte Stammtisch. Und im Internet, wo Leute die völkerrechtswidrige israelische Siedlungspolitik geißeln und zugleich die russische Okkupation der Krim verteidigen, herrscht der digitale Stammtisch. Man postet sich zu, oft enthemmter als mit zwei Promille. Aber das ist noch nicht die Drohung neuer, realer Barbarei.

Hitler ist tot und kein Wiedergänger, Berlin ist nicht Weimar, das Europa der EU ist nicht das Europa von 1914 oder 1938/39, auch Putin ist kein Stalin (ein Superantisemit), die Mentalitäten, die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen sind andere. Neu ist eher die kürzlich vom Münchner Soziologen Ulrich Beck beschriebene „Globalisierung des Antisemitismus“, der Juden überall für israelisches Regierungshandeln haftbar machen will.

Genau das nervt auch viele Juden in Deutschland. Sie möchten insoweit nicht anders behandelt werden als andere Franzosen, Engländer oder Deutsche. Schon die häufige Frage, was gerade sie vom Gaza-Krieg hielten, bedeutet eine Ausgrenzung – ähnlich der oft gedankenlos gebrauchten Redewendung von „Deutschen und Juden“. Denn wäre zwischen beiden a priori ein Unterschied, hätte ja die Selektion der Nazis noch nachträglich gesiegt.

Ein Problem ist freilich, dass auch der Zentralrat der Juden die Solidarität mit dem Staat Israel mit einer Parteinahme für israelisches Regierungshandeln verwechselt. Beispielsweise fehlt es in der von ihm herausgegebenen „Jüdischen Allgemeinen“, die gerade den Gaza-Krieg bilanziert, an fast jeder Empathie für die 2000 getöteten Palästinenser. Der kommende Sonntag wäre da ein guter Anlass, wenigstens symbolisch aus dem Freund- Feind-Denken auszubrechen. Auf allen Seiten. Weit weg von jeglichem Ismus.

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