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Jewgenij Kissin, 44.

© Sasha Gusov/EMI Classics

Der Pianist Jewgenij Kissin: Die Kunst, sich im Kreis zu drehen

Jewgenij Kissin gastiert mit Mozart, Beethoven, Brahms und Albeniz in der Philharmonie.

Ein wenig erinnert er immer noch an den bravourösen Knaben, der von den Erwachsenen auf die Bühne geschoben wird und artig seinen Diener macht. Das Zirkuspferd, das Kapriolen schlägt und den stürmischen Applaus des Publikums verlegen quittiert, spätestens mit seinem legendären Zugaben-Reigen (in der Carnegie Hall gab er 2007 zwölf hintereinander, diesmal sind’s „nur“ zwei Stücke von Enrique Granados und Brahms’ Ungarischer Tanz Nr.1): Auch mit 44 Jahren macht Jewgenij Kissin das denkbar Beste aus seiner Identität als einstiges Wunderkind. Denn er vereint Virtuosität mit Kontemplation, Expression mit Intimität. Mehr noch als bei den anderen großen Solo-Virtuosen registriert man an diesem Abend, wie verloren der Pianist im großen weiten Bühnenrund vor dem Flügel kauert. Als säße Kissin ganz allein in der Philharmonie, und der ganze Klassikbetrieb wäre einfach nicht da.

Kissin, ein Meister des Mezzoforte

Der russische Pianist ist ein wunderbar altmodischer Musiker. Einer, der sein Programm wie immer chronologisch absolviert, von Mozart über Beethoven bis zu Albeniz und dessen spanischem Landsmann Joaquin Larregla. Der erst mal schlichtes C-Dur anschlägt, mit Mozarts anmutig-verspielter Sonate KV 330, als gelte es, zu Beginn allen die Ohren zu waschen. Der Mezzoforte bevorzugt, deutlich konturierte Melodielinien und ein vom Pedal veredeltes Legato (das die Akustik des für ein Recital übergroßen Saals manchmal verwischt). Bloß keine Radikalitäten. Oder eben nur dann, wenn die Noten es vorschreiben.

Mit anderen Worten: Kaum beginnt er auf dem Steinway zu spielen, wandelt sich Kissin vom Wunderkind zum Stimmungszauberer, der die „Appassionata“ ganz aus den eröffnenden, unheimlichen Bass-Oktaven heraus entwickelt, jener Sehnsuchtsklanghöhle, in der Beethovens Motivsplitter aufblitzen wie von fern eindringende Sonnenstrahlen. Kissin liebt das hypnotisch Repetitive, die 16tel- und 32stel-Wiederholungen, die Triller oder auch das obsessive Beharren auf das eng umkreiste As im Variationssatz. Die Geburt der Musik aus der Gedankenverlorenheit: Bei der Wehmut von Brahms’ unerhört privaten Intermezzi op. 117 erweist sich Kissin ebenso als Innenweltmeister wie bei den folkloristischen Stücken aus Albeniz’ „Suite española“. Auch wenn man sich für den letzten Konzertteil etwas weniger gefällige Werke gewünscht hätte.

Das Publikum quittiert sein Spiel mit Begeisterungsstürmen

Kissins Innigkeit ist nie spontan. Jedes Rubato, jede überraschende Wendung setzt er mit zärtlicher Sorgfalt in Szene, etwa wenn er im Mittelteil von Mozarts Andante plötzlich und mit vollendeter Natürlichkeit das Register wechselt, als habe er den Umschlag von Dur in Moll gerade erst erfunden. Das verdämmernde Ritardando in Brahms’ drittem Intermezzo, die Andacht von „Cordoba“ aus Albeniz’ „Cantos de España“, bei alldem verliert er sich nie im impressionistisch Ungefähren. Kissin träumt mit offenen Augen. Und legt in der Presto-Coda der „Appassionata“ ein Wahnsinnstempo an den Tag, dass man begreift: Perfektion und Raserei sind dasselbe in der Wunderkindwelt. Begeisterungsstürme.

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