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Kultur: Der Plakativmaler

Linie, Licht, Raum: Das Hamburger Bucerius Kunst Forum würdigt den vielseitigen Künstler Alexander Rodtschenko.

Schon als junger Mann begeisterte sich Alexander Rodtschenko für die Linie – in Malerei wie Bildhauerei. „Die Linie ist die Passage, die Bewegung, die Berührung, Kante, Gegenzeichnung, Schnitt“, schrieb er und nutzte sie lebenslang als präzises Werkzeug, um Licht, Raum und Bewegung darzustellen. So wurde Rodtschenko (1891–1956) zum Vorreiter kinetischer Kunst. In den Jahren nach der Oktoberrevolution arbeitete der Avantgardist als Grafiker, Maler und Bildhauer, Bühnenbildner, Designer und Fotograf in Moskau. Mit seinen Künstlerkollegen Kasimir Malewitsch, Wladimir Tatlin und Wassily Kandinsky trieb er die dynamische Erneuerung der Gesellschaft voran, experimentierte mit innovativen Techniken, Ausdrucksformen und Medien und nahm zahlreiche künstlerische Entwicklungen der 1960er Jahre vorweg.

Rodtschenkos verblüffende Nähe zu monochromer Malerei, Minimalismus, Konzept- und kinetischer Kunst sowie digitalen Netzstrukturen macht jetzt eine Ausstellung im Hamburger Bucerius Kunst Forum (BKF) am Beispiel von 150 Werken deutlich. Die von Alla Chilova und BKF-Direktorin Ortrud Westheider komponierte Schau zeigt Rodtschenkos kreative Entwicklung von Grafik, Malerei und Skulptur über Typografie und Design bis hin zu Collage, Fotomontage und Fotografie.

Bereits 1920/21 fügte Rodtschenko seine linearen Arbeiten in ausladende, wie Planeten- oder Zell-Modelle anmutende Raumkonstruktionen. Fünf solch filigrane Gebilde schweben lichtreflektierend in der BKF-Rotunde unter der Decke. Nicht minder faszinierend Rodtschenkos hintersinnige Malerei: Als Antwort auf das weiße Quadrat seines Konkurrenten Malewitsch malte das Multitalent die ersten monochromen Bilder der Kunstgeschichte – zunächst eine ausdruckstarke Serie Schwarz auf Schwarz mit inhärenten organischen Formen und schließlich sein berühmtes Triptychon „Gelb, Rot, Blau“, an das vierzig Jahre später der Franzose Yves Klein mit „Rot-Gold-Blau“ erinnerte.

„Ich habe die Malerei zu ihrem Ende gebracht. Man braucht sie nicht“, erklärte Alexander Rodtschenko nach seinem Dreiteiler und arbeitete fortan produktnah. Mit Blick auf den Alltag entwarf er Möbel, Lampen, Kleidung, Stoffmuster, Teegeschirr und gelegentlich sogar Manschettenknöpfe. Vor allem aber entdeckte er die revolutionäre Reklame. Für Firmen wie das Kaufhaus GUM, die Fluggesellschaft Dobrolet und andere Staatsbetriebe gestaltete er funktionsgerecht signalfarbene Schilder, Verpackungen und Annoncen. Für den Staatsverlag Lengis fotografierte er Lilja Brik, die schöne Muse der russischen Avantgarde, arrangierte das Bild zum Plakat und ließ aus ihrem lachenden Mund in Comic-Manier eine Sprechblase in kyrillischer Schrift mit der Werbebotschaft quellen. Die neue Technik von Collage und Fotomontage verfeinerte er auf vielen Buch- und Zeitschriftentiteln.

Von der Fotomontage gelangte Rodtschenko 1924 zur Fotografie. Seine ungewöhnlichen Perspektiven und die grafische Wirkung seiner Aufnahmen, die stürzenden Bilddiagonalen, schrägen Aufsichten und harten Kontraste faszinieren bis heute. „Es sieht so aus, als könne nur der Fotoapparat das moderne Leben abbilden“, schwärmte er. Die Kamera beende „die Bauchnabelperspektive der Malerei“. Mit seiner noch immer intakten kleinen Leica, die Rodtschenkos aus Moskau angereister Enkel Alexander Lawrentjew in Hamburg liebevoll präsentierte, ließen sich die Linien und Strukturen gemalter und gebauter Konstrukte auch in der Realität zeigen – an alltäglichen Motiven wie Treppen, Feuerleitern, Telegrafenmasten und Häuserfronten.

Ab 1928 wurde Rodtschenkos einfallsreiches „Neues Sehen“ als Formalismus denunziert. In den 1930er Jahren beschnitten stalinistische Repressionen immer mehr seine künstlerische Ästhetik und ökonomische Basis. Bis er 1942 die Fotografie aufgab, lebte er von Bildreportagen für Propagandazwecke über Sportfeste, Militärmärsche und den von Sträflingen gebauten Weißmeer-Ostsee-Kanal. Doch selbst Fotos wie „Arbeiter und Orchester“ bleiben geometrisch strukturiert und bekräftigen Rodtschenkos frühes Credo, dass „die Linie über alles siegt“. Ulla Fölsing

Bucerius Kunst Forum, bis 15.9.,

Katalog 24,80 €, im Buchhandel 39, 90 €

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