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Kultur: Der Prophet tanzt Flamenco

Ein Choreograf entziffert die Welt: Sidi Larbi Cherkaoui beim Festival Movimentos in Wolfsburg

Um Sidi Larbi Cherkaoui zu verstehen, folgt man am besten seinem Rat und besucht das rechte Querschiff der Kathedrale von Antwerpen. Dort hängt die „Kreuzabnahme“, ein monumentales Altarbild von Peter Paul Rubens. Der blaubleiche Körper Christi gleitet schlaff in die Arme der Umherstehenden. Das Blut der Wundmale besudelt das Grabtuch. „Ich war etwa fünf, als mich meine Mutter das erste Mal hierherführte“, erinnert sich Cherkaoui. „Schau, das ist Kunst, sagte sie zu mir. Als Kind weiß man ja nicht, was schön ist und was nicht.“ So verband er von von da an Schönheit mit Schmerz und einem blutenden Körper. „Zeig so ein Bild mal Chinesen. Die finden so etwas Furcht einflößend“, sagt Cherkaoui. „Ist das nicht faszinierend?“

Der 35 Jahre alte Cherkaoui ist derzeit einer der klügsten und interessantesten Choreografen der europäischen Tanzszene. Die Frage, wie Kulturen und Werte entstehen, treibt ihn um. Ein Werben um Verständnis für das Fremde. Zum Movimentos-Festival in Wolfsburg, das in diesem Jahr unter dem Motto „Wahrheit und Schönheit“ steht, ist Cherkaoui mit zwei Produktionen eingeladen, „Apocrifu“ und „Dunas“ (Dünen), das nun Deutschlandpremiere feiert.

Das erste Stück kreist um die Apokryphen, jene Geschichten, die es nicht geschafft haben, in die Bibel aufgenommen zu werden, später aber im Koran wieder auftauchen. Drei Männer, ein japanischer Balletttänzer, ein Zirkusartist und Cherkaoui selbst, tanzen zu traditionellen korsischen Chorgesängen mit Büchern, sie schreiben auf den Körpern der anderen und umkreisen Puppen. „Die bewegen sich nur, wenn wir sie bewegen.“ Für den Choreografen ist das ein einfaches Sinnbild für den Glauben.

In „Dunas“ arbeitet der Belgier mit der Flamenco-Tänzerin Maria Pagés zusammen. Das Bild der Dünen gefiel beiden: In der Wüste gibt es keine Bezugspunkte. Und damit auch keine Kategorisierungen für den Tanz. Flamenco? Zeitgenössischer Tanz? Egal. „Wir tanzen zusammen“, sagt Cherkaoui. So wie sich Sandkörnchen vermischen und man nicht mehr unterscheiden kann, aus welcher Richtung der Wind sie hergeweht hat. Sie tanzen, als würden sie miteinander sprechen. Sie prallen aufeinander, sie verschmelzen. Mal übernimmt der eine, mal die andere die Bewegungen des Partners.

Cherkaoui gehört zur internationalen Festival-Elite, bei der Spielzeit Europa in Berlin war er mit „Sutra“ und mit „Babel“ zu Gast. Er trifft den Nerv der Zeit, es geht um Integrationsdebatten, Flüchtlingswellen und Islamfurcht. Seine Mutter ist Belgierin, sein Vater Marokkaner. Er ist mit Arabisch, Französisch und Flämisch aufgewachsen, mit dem Christentum und dem Islam. Und meistens fühlte er sich fehl am Platz. Vor zwei Wochen ist er von der Unesco mit einem Nachwuchspreis für die Verständigung zwischen der arabischen und der westlichen Welt ausgezeichnet worden.

Cherkaoui sucht nach Komplexität, nach historischer Wahrheit. Der Ausruf „olé“ im spanischen Flamenco, erzählt er, hat sich aus dem arabischen „Allah“ entwickelt. Es ist ein Zeichen dafür, das Spanien unter den Mauren einmal islamisch geprägt war. Und wenn man genau hinschaut, dann findet man so manch stampfende Schritte, so manch steppenden Fuß auch im traditionellen indischen Tanz Kathak. Spanien und Indien sollen gemeinsame Wurzeln haben? Im Tanz wird es sichtbar. Cherkaoui arbeitet nicht anders als ein Sprachwissenschaftler, der herauszufinden versucht, wie sich Worte entwickelt haben.

Selten trifft man im Tanz auf einen Künstler, der so konkrete Botschaften hat – und sie in so poetische, formvollendete Kunst gießt. Und oft spielt die Hand eine Hauptrolle in seinen Stücken. Sie schreibt, sie führt die Bewegungen an, sie gestikuliert. Wir brauchen die Hand als Werkzeug und zur Kommunikation. Wir winken, wir wedeln, wir deuten, wir schütteln sie uns gegenseitig.

Als Kind hat er viel gezeichnet, und er erlernte die arabische Schrift. Wenn er heute tanzt, dann sieht es so aus, als habe er an den Händen und Füßen Kalligrafie-Pinsel. Er kann klassisch, er kann Show, er kann Modern, er kann Flamenco, er kann Kampfkunst. Er tanzt zart. Er tanzt hart.

Cherkaoui rackert und strahlt dennoch die Ruhe eines Yogi aus. In den letzten zwei Jahren hat er zehn Produktionen gestemmt. „Babel“ wurde inzwischen 80 Mal aufgeführt, das bisher erfolgreichste Stück des Choreografen. Cherkaoui erhält Inszenierungsaufträge vom Sadler’s Well in London, für das Ballett in Monte Carlo, in Kopenhagen, Paris, Brüssel oder Berlin. Für die Staatsoper hatte er im Herbst vergangenen Jahres unter der Regie von Guy Cassier Passagen im „Rheingold“ choreografiert. Und immer wieder arbeitet er in seiner Heimatstadt, am Theater Toneelhuis in Antwerpen. Dort hat er im vergangenen Jahr auch seine Compagnie „Eastman“ gegründet. Er musste seine Kräfte bündeln, braucht Mitarbeiter, die ihn unterstützen.

Es ist faszinierend und traurig zugleich, dass die Ereignisse der Welt immer wieder Cherkaoui auf seinem Weg bestätigen. Das Stück „Zero Degrees“ hatte Premiere in London, als sich dort 2005 die Terrorangriffe auf die U-Bahn ereigneten. Er tanzte damals zusammen mit Akram Khan, einem britischen Künstler mit Eltern aus Bangladesch, muslimisch aufgewachsen. „Babel“, das sich mit der Vielsprachigkeit der Menschheit auseinandersetzt, kam zu einem Zeitpunkt heraus, als die belgische Regierung zusammenbrach.

Die Staatskrise dauert nun schon ein Jahr, weil sich die französischsprachigen und die flämischen Parteien partout nicht zusammenraufen können. Cherkaoui, der Flame, arbeitete hier mit Damien Jalet zusammen, ebenfalls Belgier, aber aus dem frankophonen Teil des Landes.

Und nun Japan. Cherkaoui kommt gerade erst aus Tokio zurück, er probte dort, als das große Erdbeben kam. Sein neues Stück beschäftigt sich mit dem Manga-Zeichner Osamu Tesuka. Dessen bekannteste Figur ist „Astroboy“: ein kleiner Roboterjunge – betrieben mit Atomenergie.

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