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Kultur: Der Rätselmaler

Zum 70. Geburtstag des Fotorealisten Chuck Close

Unter den Überraschungen der Documenta 5 von 1972 war der amerikanische Fotorealismus eine der größten. Und unter diesen stechend wirklichkeitsgetreuen Bildern war das Porträt „John“ von Chuck Close das verstörendste: das übermannsgroße Abbild eines Kopfes. „Zum Kotzen ähnlich“, titelte eine angesehene deutsche Zeitung über die neue Richtung der US-Kunst, nachdem Europa gerade erst mit der Pop Art Bekanntschaft gemacht hatte. Statt ironischer Verfremdung nun blanke Abbildhaftigkeit? Es dauerte, bis die Strategie der fotorealistischen Künstler begriffen wurde. Close ist unter ihnen der radikalste. Denn der Anblick seiner riesigen, gnadenlos detailgetreuen Antlitze zwingt den Betrachter zur Reflexion über das eigene Aussehen und die eigene Wahrnehmung.

Als Fotorealist mochte Close gleichwohl nie bezeichnet werden, „weil mich vor allem die Künstlichkeit interessiert, nicht die Wirklichkeit“, wie er vor einigen Jahren präzisierte: „Ich bin kein naturalistischer Dokumentarist, sondern eher eine Art Spurenverwischer, der dem Betrachter möglichst komplexe Rätsel aufgeben will.“ Damals hatte sich Close bereits von der mikroskopischen Darstellung seiner makroskopischen Bildnisse gelöst und die Bildpunkte, aus denen sie zusammengesetzt sind – eine Zeitlang streng optisch-physikalisch aus drei Grundfarben – in immer gröbere Farbpixel aufgelöst. Dabei machte sich Close die Erkenntnis der Wahrnehmungspsychologie zunutze, dass ab einer bestimmten Nähe zum Bild nur noch Farbpunkte zu erkennen sind, die optische Synthese zum gemalten Kopf jedoch unmöglich wird. Was also ist ein Bild, diese Frage umkreist Close, genauer: Ist ein Porträt noch möglich?

Das Oszillieren zwischen einer Exaktheit, die man allein dem Fotoapparat zubilligen wollte, und einem Farbauftrag, der zunehmend an die expressiven Gesten der amerikanischen Nachkriegsmalerei erinnert, macht die Faszination des Close’schen Spätwerks aus. Dabei musste der Künstler auf einen schweren Schlaganfall im Jahr 1988 reagieren und lernen, mit Hilfe einer Manschette zu malen, streichen, tupfen. Schon zuvor hatte er sich auf die Entdeckungsreise zu den einzelnen Farbfeldern gemacht, die nun immer mehr zu kleinen abstrakten Bildern wurden und in ihrer Gesamtheit einen Teppich unterschiedlichster Quadrate ergeben. Close hat die Möglichkeiten des Porträts im Zeitalter der Medien ausgelotet und der Malerei ihr ureigenes Terrain bewahrt. Chuck Close, geboren 1940 im ländlichen Nordwesten der USA und ausgebildet in den sechziger Jahren unter anderem an der Wiener Akademie, begeht heute seinen 70. Geburtstag. Bernhard Schulz

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