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Kultur: Der Reiz der Mauerschau

Man wird, was man haßt.Diesen Gedanke vom James Baldwin habe ich nie vergessen.

Man wird, was man haßt.Diesen Gedanke vom James Baldwin habe ich nie vergessen.Er hat sich mir eingeprägt und mit ihm die Zeitschrift, in der ich ihn entdeckte - "Sinn und Form".Was für ein merkwürdiger Titel: "Sinn und Form".Ein Titel der nach Weimar duftet, webender Ordnung und Übersicht.Als wäre das längst nicht schon das Unwort schlechthin - der "Sinn" in einer Welt der Sinne, solcher und solcher.Und als würde noch jemand über Formen sprechen, von Gedanken etwa oder Gedichten.Wenn "Sinn und Form" sich diesem Versuch noch immer verpflichtet, so hat das etwas mit dem Ursprung dieser Zeitschrift zu tun, ihrer Gründung im Geburtsjahr jenes Staates, dessen kultureller Ausweis sie werden sollte.

"Sinn und Form" hatte immer einen Beweis zu führen: Daß hier, im Osten, die bessere Kultur bewahrt bleibt - Goethes Weimar lebt, seine Weltoffenheit genauso wie die Geburt eines Kosmos aus der Enge."Sinn und Form" wurde so zu einem Loch in der ostdeutschen Mauer.Nicht nur, weil sie im Grunde die einzige Importzone anspruchsvoller Essayistik in der DDR war, sondern auch weil ihrer Redaktion kaum ein Talent entging, das sich nicht auch jenseits der Heimat bewähren könnte und später auch hat.Gibt es ein Land, in dem eine Akademiezeitung zu ähnlicher Wirkung und Repräsentanz gelangt ist?

"Sinn und Form" wirkte in Ostdeutschland in einer Weise nobel, die völlig anachronistisch war.Nicht nur durch die Aufmachung, das gute Papier, den schönen Satz.Es war vor allem die geistige Liberalität, mit der hier eine Autorenschau betrieben wurde, die "Sinn und Form" zum letzten Forum linksliberaler Bürgerlichkeit inmitten einer entbürgerlichten Gesellschaft machte.Diese Zeitschrift versammelte Texte von Abgesonderten, ferne Grüße einer geistigen Autonomie fast jenseits von Staat und Gegenwart.Als Zeitschrift war "Sinn und Form" immer exterritorial, auch wenn sie Grußadressen von Erich Honnecker enthielt.Und bis heute repräsentiert "Sinn und Form" das Vertrauen in eine Kultur der Schrift und der Überlieferung, das so puristisch selten wurde.Vergleichbar wäre vielleicht noch das Magazin "Lettre", doch fehlen die Bilder, das Layout, die Farbe."Sinn und Form" will noch immer nur gelesen werden.Diese Zeitschrift wurde weder zum Kursbuch noch zum Forum einer Tendenz.Jedes Heft hat viele Themen und sie berühren sich nur in einem Punkt: Das Prinzip, nach dem die Beiträge evaluiert werden, sucht das Bleibende.Wer hier schreibt, scheint zur Ruhe gekommen, verankert in Kontinuitäten.

Nun wird "Sinn und Form" fünfzig Jahre alt.Das könnte auch, nach unten abgerundet, das Durchschnittsalter seiner Autoren sein, sofern sie noch leben.Im Grunde fühlte ich mich als ihr Leser von Anfang an zu jung.Es war und ist die "Mauerschau", die mich an dieser Zeitschrift reizt - der Blick in einen Garten freier Geister.In "Sinn und Form" gedruckt zu werden, ist eine Art von "Ewigkeits-Attest".Als Student suchte ich in diesen Heften vor allem neue Texte von Heiner Müller; die Erregungen wandern, und heute freue ich mich über einen Beitrag von Pawel Florenski.

Aber noch immer fühle ich mich eigentlich zu jung für jedes Heft, zu unruhig und eilig und glaube inzwischen, daß das nicht mehr eine Frage des Alters ist."Sinn und Form" blieb als Zeitschrift "exterritorial" - der Bote einer Lebenswirklichkeit, die sich ihre eigene Zeit setzt und verlangt.Und dennoch: Ich wünsche mir Reize, die noch stechen.Aber vielleicht, wie sagte James Baldwin, wird man zu dem, dem man entflieht.

Der Autor, 1966 in Jena geboren, lebt als Dramatiker und Essayist in Berlin.

THOMAS OBERENDER

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