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Kultur: Der schiefe Himmel

Christiane Neudecker ist Schriftstellerin, Regisseurin, Librettistin. Ab Donnerstag zeigt die Deutsche Oper ihre neue Arbeit – ein Foyertreffen.

Das Bücherschreiben ist offenbar auch nicht mehr das, was es einmal war. Sicher, wenn Christiane Neudecker am Schreibtisch sitzt und darüber nachsinnt, welche der „1001 Möglichkeiten, eine Geschichte zu erzählen“ genau die richtige ist für diejenige, die sie gerade zu Papier bringen will, wie also der Ton dieser neuen Geschichte sich anhören soll oder die Melodie ihrer Sätze: Dann geht es der 1974 in Erlangen geborenen Schriftstellerin auch nicht anders als den anderen da draußen, die unter ziemlich viel Mühe und Schmerz Werke in die Welt bringen.

Außer vielleicht, dass Neudecker, die 1994 nach Berlin kam, um an der Ernst-Busch-Hochschule Regie zu studieren, beim Schreiben womöglich von ihrer Theaterarbeit beeinflusst ist, „Lichteinfall, Rauminszenierung“, überdies sehr sorgfältig über die Führung ihrer Personen nachdenkt, zum Beispiel über die vielen Auftritte und Abgänge, die eben auch zu einem Roman gehören. Bislang hat sie zwei Erzählbände und zwei Romane veröffentlicht. Und einmal, erzählt Christiane Neudecker nun im Foyer der Deutschen Oper, wo am Donnerstag ihre neueste Arbeit Premiere feiern wird, einmal ist sie „fast verzweifelt“ an der Arbeit an einem bestimmten Kapitel. Mit einer Figur darin, so empfand sie, „stimmte etwa nicht“. Dann habe sie gemerkt, dass diese einen stärkeren Auftritt brauchte, viel mehr Präsenz beim Ankommen im Romangeschehen. Figurenführung, das ist es wohl. Denn auch den König – alte Theaterweisheit – spielen ja immer die anderen: In Neudeckers jüngstem Roman „Boxenstopp“, der im Frühjahr bei Luchterhand erschien und vom Milieu der großen Automobilkonzerne erzählt, gehört zu den Schergen des Konzernchefs ein Mitarbeiter, der heftig mit seiner Kollegin flirtet. Doch als der Chef ein Auge auf sie wirft, zieht er sich sofort zurück.

Womit wir gleich beim Thema wären. Denn dass das Bücherschreiben nicht mehr ist, was es einmal war, merkt man zum einen an dem extravaganten Ankündigungsfilm zum Buch, der auf Youtube anzuschauen ist: eine krasse Mischung aus Lesung, Sounddesign und Videokunstwerk. Und zum anderen an der Handlung von „Boxenstopp“ selbst. Welcher Autor kann schon aus der Mitte des modernen Automobilbaus schreiben, wer aus eigener Anschauung von den spektakulären Vermarktungsprojekten erzählen, die die Konzerne für ihre neuen Luxusmodelle lancieren? Musste Neudecker da nicht urst viel recherchieren? „Nein“, sagt sie ruhig und schaut sehr offen, „diese Welt ist mir nicht fremd.“ Und dann berichtet sie von der Arbeit mit „Phase 7“, einem 1999 gegründeten Künstlernetzwerk unter Leitung von Sven Sören Beyer. Mit Beyer ist sie seit 20 Jahren bekannt. Sein „Phase 7“, ein im Kern 20 Köpfe umfassendes, mitunter auf bis zu 300 Mitwirkende anwachsendes Kollektiv, arbeitet an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft, nutzt Hochtechnologie und macht diese zugleich zum Thema.

Gemeinsam mit „Phase 7“ hat Christiane Neudecker zahlreiche Aufträge aus der Wirtschaft entgegengenommen, hat für Porsche, BMW und einzelne Rennstrecken gearbeitet, Softwarekunst, Lichtarchitekturen und Projektionen gestaltet, überdies wahnwitzige Szenerien entworfen, zum Beispiel für die Eröffnungszeremonie der Internationalen Festspiele Bergen zum Thema „Schwarmintelligenz“: mit Riesenchor, Live-Musikern und Video-Künstlern und leuchtenden Quadkoptern, die vom nächtlichen Himmel herabschwebten. Neudecker hat gelernt, auf zehntausende statt wenige hundert Menschen im Publikum einzugehen, „es sind ganz andere Bilder, die man schaffen muss.“

Ist das aber Kunst? „Es ist Handwerk“, sagt Neudecker. Und setzt hinzu, dass es idealerweise Überschneidungen in die Kunst hinein gebe – schon allein in den „reduzierten Sachen“, die sie mit „Phase 7“ entwickelt habe. Zugleich kennt sie natürlich auch das „Wechselbad“ der ganz anderen künstlerischen Arbeit daheim am Schreibtisch, für die sie von ihren Kollegen gewissermaßen freigestellt wird. Und die ihr dann mitunter auch schwerfällt, obwohl sie doch ganz allein bestimmen darf: „Ich bin niemand, der Dinge so aus dem Ärmel schüttelt.“

Neudeckers sorgfältig gewirkte Prosa handelt oft von Musik. Schon der erste Geschichtenband „In der Stille ein Klang“ von 2005 sprach von Klängen und der Sehnsucht nach Stille. Auch in der Titelerzählung von „Das siamesische Klavier“ (2010) ist von einem Instrument die Rede, einem im Urwald gefundenen Klavier, das alle ins Unglück stürzt, die es spielen wollen. Und dann sind da noch Neudeckers Libretti, eine erste Arbeit für die Einsteinoper „C – The Speed of Light“ und jetzt das Libretto für „Dass die Welt verrückt sein mag“: ein Musiktheaterstück über einen in Schieflage geratenen Himmel, das an der Deutschen Oper uraufgeführt wird, vertont von Christian Steinhäuser und in Szene gesetzt von „Phase 7“.

Auch bei diesem Libretto ist nichts mehr so, wie man es sich vielleicht einmal vorgestellt hat. Neudecker macht daraus ein Pastiche aus Poesie, Nachrichtensprech und mathematischen Formeln, das in enger Abstimmung mit den Künstlerkollegen entstand, „eine ganz andere Arbeit“ als beim Schreiben der eigenen Bücher. Die Mittel, die der Regisseur Beyer erwog, die musikalische Vision des Komponisten Steinhäuser waren für die Librettistin Neudecker „eine Art Fahrplan“. Und auch wenn Steinhäuser nur sanft in ihren Text eingriff, hie und da wohl Zeilen verschränkte oder eigene musikalische Akzente setzte, sich aber „sehr genau“ mit ihr absprach: Der Übergang von der Prosa-Allein- zur Libretto-Kollektiv-Autorin bringt wohl beides mit sich, Reiz und Gefährdung. In der Nacht vor der ersten Sängerprobe zumindest träumte Christiane Neudecker (und lacht, als sie das erzählt), dass Steinhäuser ihr die Wohnung umgeräumt habe.

Deutsche Oper, 22.–28. August, 21 Uhr

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