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Man muss die toten Wörter wieder lebendig machen. Michail Schischkin, Jahrgang 1961.

© picture alliance / Sven Simon

Der Schriftsteller Michail Schischkin im Interview: „Eine kriminelle Bande hat die Macht usurpiert“

Der Schriftsteller Michail Schischkin hat gerade ein Jahr als DAAD-Stipendiat in Berlin verbracht. Im Tagesspiegel-Interview spricht er über das Regime in Russland – und seine Leidenschaft für Deutschland.

Michail Schischkin, unsere Wege haben sich seltsam gekreuzt, schon vorgeburtlich: Ihr Vater war Matrose auf einem sowjetischen U-Boot, das Jagd auf deutsche Flüchtlingsschiffe gemacht hat. Es hätte das Schiff versenken können, mit dem meine Mutter 1945 von Königsberg nach Dänemark floh. Begegnet sind wir uns aber erst an einem Ort in Nordfrankreich, der mir viel bedeutet. Und nun haben Sie ein Jahr in Friedenau verbracht, zwei Häuser neben meiner ersten Berliner Adresse. Schicksal?

Ja, klar. Man bekommt vom Schicksal alles, was im Leben wichtig ist: die Eltern, die Heimat, die Sprache. Auch die Bücher. Ein Schriftsteller tut nur so, als habe er die Freiheit, diesen oder jenen Roman zu schreiben. Du kannst deinen Roman nicht wählen, genauso wenig wie dein Kind.

Sie sind nun zum dritten Mal für längere Zeit in Berlin. Erinnern Sie sich an den ersten Besuch?

Berlin wirkt immer inspirierend auf mich. Hier ist mein letzter Roman zu mir gekommen: „Briefsteller“. Zum ersten Mal kam ich 1976 bei einem Schüleraustausch, da war ich 15. Einem Jungen aus der erbärmlichen Sowjetunion kam Ost-Berlin wie das Paradies vor. Zwei Wochen haben auch für die erste Liebe gereicht. Sie hieß Anita. In einer Fremdsprache fällt es leichter, eine Liebeserklärung zu machen. Als ich ein paar Jahre später in meiner Muttersprache eine Liebeserklärung machen wollte, scheiterte ich: Zum ersten Mal machte ich die schmerzhafte Erfahrung, dass alle Wörter tot sind und den Sinn nur verzerren. Ich konnte das, was ich fühlte, nicht in Worte fassen. So wird man vielleicht zum Schriftsteller. Die Sprache wird zum Gegner. Es bleibt nur ein Weg: Man muss die toten Wörter wieder lebendig machen, damit man über die Liebe sprechen kann. Jede echte Prosa ist eigentlich eine Liebeserklärung an Gottes Welt.

In Frankreich glaubt man, das Deutsche sei unpoetisch.

Nicht nur in Frankreich. In unserer Schule wurden die Schüler in zwei Fremdsprachen-Gruppen eingeteilt. Alle wollten Englisch lernen, niemand Deutsch. Die Lehrer drohten: „Wenn du schlechte Noten hast, kommst du in die deutsche Gruppe!“ Ich hatte gute Noten, aber das Pech, dass meine Mutter die Schuldirektorin war. Sie sagte: „Mischa, ich weiß, du hast es verdient, in die englische Gruppe zu gehen, aber du wirst Deutsch lernen. Dann können mir die anderen Eltern nicht vorwerfen, ich hätte dich bevorzugt.“

Ein echter Schicksalsschlag!

Meine Einstellung änderte sich, als ich in der Abschlussklasse in russischer Übersetzung „Mein Name sei Gantenbein“ las. Ich war total überwältigt, denn bei uns war fast alles verboten, was für die Entwicklung der Literatur im 20. Jahrhundert wichtig war. Nicht einmal Nabokov oder Joyce wurden publiziert. Dank Max Frisch kamen die Errungenschaften der westlichen Prosa wie durch einen Trichter in mich hinein. Ich habe dann „Stiller“ im Original aufgetrieben und mit dem Wörterbuch gelesen. So begann meine Liebe zur deutschen Sprache, die bis heute anhält. Viel später übrigens wurde ich von Max Frisch enttäuscht, aber das hatte nichts mit der Sprache zu tun.

Welche deutschen Autoren haben Sie geprägt?

Als Germanistikstudent musste ich ja alles lesen, was bei uns an der pädagogischen Lenin-Hochschule unterrichtet wurde, vor allem Klassiker aus dem 18. und 19. Jahrhundert und viele DDR-Autoren. Ich hatte aber mein eigenes Programm. Ich weiß noch, wie ich Rilke, Borchert, Hesse, Jünger, Handke, Celan, Benn, Ilse Aichinger mit großem Interesse las. Inzwischen ist für mich ein Autor sehr wichtig geworden, der in der Sowjetunion völlig unbekannt war: Robert Walser. In diesem Jahr habe ich seinen „Spaziergang“ ins Russische übersetzt und einen großen Essay über ihn geschrieben „Walser und Tomzack“. Ich hoffe, der Text erscheint bald auch auf Deutsch.

In Russland läuft die Zeit zurück in Richtung Mittelalter

Man muss die toten Wörter wieder lebendig machen. Michail Schischkin, Jahrgang 1961.
Man muss die toten Wörter wieder lebendig machen. Michail Schischkin, Jahrgang 1961.

© picture alliance / Sven Simon

Bei Wikipedia findet man sechs Personen mit Ihrem Familiennamen plus einen Autor. Mir hat ein Bekannter einen Text aus dem 18. Jahrhundert geschenkt, in der ein erfundener Pastor Flügge vorkommt. Man sollte sich seine Vorfahren gut aussuchen oder ausdenken.

Stimmt. Meine Vorfahren waren einfache Bauern aus dem Tambow-Gebiet. Als ich 18 war, begab ich mich auf die Suche nach meinen „echten“ Verwandten und stieß in der Brockhaus-Enzyklopädie auf meine Ururgroßmutter Olympiada Petrowna Schischkina, die als „Fräulein“ am Hof des Zaren Nikolaus I. lebte und historische Romane verfasste. Das Problem ist nur, dass die Hoffräulein immer Jungfrauen sein mussten. Wer weiß, vielleicht hat sie einen unehelichen Zarensohn zu ihren Verwandten nach Tambow geschickt.

Die persönliche Vorgeschichte ist das eine. Das andere ist die Präsenz der jüngsten Vergangenheit. In Berlin ist sie besonders massiv. Die NS-Zeit ist omnipräsent, in Bauten, Gedenktagen, Museen.

Der Vater meiner norwegischen Übersetzerin Marit Bjerkeng war im Krieg in Sachsenhausen interniert. Vor einem Monat hat sie uns besucht und seine KZ-Sachen wie Kleidung und Löffel mitgebracht, für das Museum. Mit meinen russischen Erfahrungen glaubte ich, dass solche Erinnerungsstücke der Familie gehören und zu Hause aufbewahrt werden müssten. In Russland weiß man nie, was für die Museen morgen wichtig und was aus der Geschichte unwichtig sein wird. Die Vergangenheit ist bei uns nie eine Tatsache, sondern immer eine Streitfrage, deshalb ist es auch nicht möglich, sie wie die Deutschen zu bewältigen. Nur die Omnipräsenz der Geschichte, auch des „Dritten Reichs“, erlaubt die demokratische Entwicklung hierzulande. In Russland läuft die Zeit zurück in Richtung Mittelalter.

Woran glaubt man überhaupt, wenn man in der Sowjetunion aufgewachsen ist, deren Zerfall miterlebt hat und die enttäuschende Entwicklung danach?

Wer hätte vor dem Zerfall der Sowjetunion an ihre schnelle Auflösung geglaubt? Und doch ist dieses Wunder passiert. Warum sollten nicht andere Wunder passieren? Im Moment sieht es aber eher nach dem Gegenteil aus: Willkommen in der Diktatur des 21. Jahrhunderts! Die Grenzen sind offen, weil das Regime keine Bevölkerung braucht, die Erdöl- und Gas-Pipelines reichen ihm vollkommen. Eine kriminelle Bande hat die Macht im Lande usurpiert, pumpt die Bodenreichtümer in den Westen. Wozu mit der Bevölkerung die Einkünfte teilen? Das Geld wird auch im Westen investiert, in Paläste an der Côte d’Azur und in Fußballklubs, aber nicht in Russland. Im Lande wird nichts produziert, das meiste Geld wird von den Beamten gestohlen. Für die Unzufriedenen wurde das Internetghetto geschaffen, doch die meisten haben als einzige Informationsquelle das staatliche Fernsehen. Durch den „Zombie-Kasten“ werden die Leute manipuliert und bekommen ein mittelalterliches Weltbild serviert: Das heilige Russland ist von einem Ozean von Feinden umzingelt und nur der Vater im Kreml kann die Nation retten.

Napoleon hat gesagt, die Politik ist das Schicksal. Kann man nicht für die Russen wie für die Deutschen von heute sagen: Die Vergangenheit ist das Schicksal?

Einerseits ist es so. Wo wäre die deutsche Demokratie ohne die totale Niederlage im Krieg und ohne Neuanfang mit Unterstützung der westlichen Demokratien? Aber im Fall Russland wäre das eine Art Rechtfertigung. Mit einer solchen Vergangenheit lässt sich keine Demokratie aufbauen. Die Situation heute ist erniedrigend für jeden Russen, der eine Vorstellung von der menschlichen Würde hat. Und wird jeden Tag noch erniedrigender. Werden sich auch unsere Kinder und Enkelkinder mit der Erniedrigung weiter abfinden? Soll unsere Sklaven-Vergangenheit unser künftiges Sklaven-Schicksal bestimmen?

Wo bleibt das Positive?

Der erste Versuch der russischen Demokratie scheiterte 1917 am Krieg. Der zweite nach dem Zerfall des Kommunismus scheiterte am Fehlen der bürgerlichen Mittelschicht. Die Chancen für einen dritten Anlauf sehen besser aus. Und kein Diktator herrscht ewig, dafür wird schon das Schicksal sorgen.

Michail Schischkin, 1961 in Moskau geboren, studierte Germanistik und Anglistik. 1995 zog er in die Schweiz.Er lebt in einem kleinen Ort bei Basel, kehrt oft nach Moskau zurück und nimmt Anteil an der politischen Entwicklung. Seit 1994 publiziert er Romane und Essays; das deutsche Publikum entdeckte ihn 2011, als er den Internationalen Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt für den Roman „Venushaar“ erhielt. Gerade verbrachte er ein Jahr als Stipendiat des DAAD in Berlin. Zuletzt erschien sein Roman „Briefsteller“ (DVA, München 2013). Der Berliner Autor Manfred Flügge, der das Gespräch geführt hat, kennt Schischkin seit einem gemeinsamen Aufenthalt in der Villa Mont Noi an der französischbelgischen Grenze. Sein Buch „Muse des Exils – Das Leben der Malerin Eva Herrmann“ erschien 2012 bei Insel.

Manfred Flügge

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