zum Hauptinhalt

Kultur: Der Seesturm tobt

Wenn Nikolaus Harnoncourt dirigiert, artikuliert das Chamber Orchestra of Europe rhetorisch, formt die Töne zu Worten und ahmt mit Hilfe des Atems, musikalischer Interpunktion und Syntax die Sprachmelodie nach.Fast Gegenteiliges forderte Myung-Whun Chung von ihm in der Mozart-Beethoven-Mendelssohn-Tournee-Produktion, die im Kammermusiksaal Station machte.

Wenn Nikolaus Harnoncourt dirigiert, artikuliert das Chamber Orchestra of Europe rhetorisch, formt die Töne zu Worten und ahmt mit Hilfe des Atems, musikalischer Interpunktion und Syntax die Sprachmelodie nach.Fast Gegenteiliges forderte Myung-Whun Chung von ihm in der Mozart-Beethoven-Mendelssohn-Tournee-Produktion, die im Kammermusiksaal Station machte.Der Chef des Orchesters der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom disponiert kleinteilige Einheiten nur als Kontrast zu großräumigen Energieflüssen, arbeitet mit Graden der Anspannung und Entspannung in Rhythmik und Dynamik, Melodik und Harmonik, Artikulation und Phrasierung.Das Konkrete meint hier stets das Allgemeine.Der Seesturm im Kopfsatz der Schottischen Sinfonie von Mendelssohn wird mit allen Farben raffiniertester Tonmalerei nachgestellt.Die Hörner setzen ihre Akkorde wie Felsen in die Brandung, ihre Sekundreibungen markieren später die Krisis des Unwetters.Wichtiger aber ist die Stimmung romantischer Zerrissenheit, die sich im nervösen Wechsel fiebrig schlängelnder Legato-Linien und rhythmisch geschärfter Tutti-Schläge, fahl brütender Liegetöne und mächtig aufbrandender Crescendo- und Decrescendo-Wellen manifestiert.Wichtiger ist die große Form.Chung läßt die vier Sätze der Sinfonie attacca aneinander anschließen und bindet sie zu einem in sich noch widersprüchlicheren Riesensatz, der seine Auflösung erst im Finale maestoso findet.Hier öffnete Chung den eisernen Griff, unter dem die Klänge vibrierten, und ließ den Ton frei strömen.Als Konzept einer konsequent durchgehaltenen Anti-Programmusik von fast Brucknerschen Dimensionen war das atemberaubend.In der Realisierung durch die Klangzauberer des Chamber Orchestra of Europe nicht minder.

Die zugespitzte Rhythmik, die nicht davor zurückscheute, einfache Viertel wie punktierte zu behandeln, verlieh auch Beethovens Tripelkonzert seinen Schwung.Das Klavier übernahm entschieden die Führung.Die Personalunion von Dirigent und Solist machte hier einmal auch musikalisch hörbar Sinn.Und dies um so mehr, als Chung die Concertino-Gruppe überraschenderweise ins Orchester verlängerte und gemeinsam mit den delikaten Solisten Renaud Capuçon und Richard Lester immer neue Dialoge mit Orchester-Gruppen und -Solisten zutage förderte.Daß Mozart, zumal dem frühen Mozart der "kleinen" C-Dur-Sinfonie KV 200, mit den Mitteln rhetorischer Analyse tiefere Einsichten zu entlocken sind, ist mittlerweile eine Binsenwahrheit.Will man das nicht, so zeigten Chung und das COE mit ihrer Deutung einen überzeugenden Weg, den Viersätzer als blitzblankes Hörvergnügen zu servieren.

BORIS KEHRMANN

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false