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Kultur: Der Segenmacher

Sehnsucht nach der Wahrheit: Peter Brooks „Tierno Bokar“ bei der Spielzeiteuropa in Berlin

Es gibt eine Sehnsucht nach der Unschuld des einfachen Lebens, die besonders unter Menschen gedeiht, deren eigenes Leben denkbar kompliziert ist, geregelt von Funktionssystemen, Abhängigkeitsverhältnissen, Sachzwängen, Marktgesetzen. Um ihre Sehnsucht zu stillen, lesen solche Menschen manchmal Erbauungsliteratur, früher von Hermann Hesse, Saint-Exupery oder Khalil Gibran, heute zum Beispiel von Paolo Coelho. Da wärmen einfache Weisheiten, man träumt sich in eine versunkene, vorzivilisatorische Welt zu den schönen Wilden, weit weg. In dieser golden beleuchteten Exotik murmeln sanft lächelnde Weise, die man auch gerne Meister nennen darf, trostreiche Wortgirlanden, zum Beispiel: „Es gibt drei Wahrheiten. Deine Wahrheit. Meine Wahrheit. Und die Wahrheit.“ Dazu erklingen aus der Ferne exotische Flötentöne, und sanft schlägt die Trommel.

Auch der große Welttheater-Regisseur Peter Brook nähert sich seit längerem dem Erbaulichen. Längst vorbei sind seine wagemutigen Experimente und Expeditionen zum Theater Afrikas oder Asiens. Seine Suche nach einer universellen, direkten, unmittelbaren Theatersprache hat sich, wenn man ehrlich ist, im Süßlichen festgefahren. Die revolutionäre Geste, mit der Brook vor Jahrzehnten allen Milieu-Naturalismus, alle Salonstücke samt Teetassen-Geklapper und Stilmöbeln, das klischierte Klassikerpathos beiseite fegte und erklärte, jeder leere Raum, in dem sich Menschen bewegen, könne Bühne sein, hallt nur noch schwach in seinen neueren Inszenierungen nach. Brooks Befreiung des Theaters hat Epoche gemacht und mehrere Künstlergenerationen geprägt, aber es ist davon kaum mehr übrig geblieben als das Angebot, es sich miteinander im Gefühl des eigenen Edelmuts gemütlich zu machen. Brooks neueste Arbeit „Tierno Bokar“ die schon auf diversen europäischen Festivals zu sehen war, gastiert nun zum Abschluss der Berliner „Spielzeiteuropa“ in den Sophiensälen (in französischer Sprache, mit deutschen Obertiteln).

Das Stück nach einem Buch des afrikanischen Autors Amadou Hampathé Ba erzählt von einem Glaubenskonflikt im tiefsten Afrika: Ein islamischer Meister lehrt das „Elf-Perlen Gebet“, ein anderer das „Zwölf-Perlen-Gebet“. Gläubig sind sie beide, weise, edel und erhaben. Und am Ende werden sie, ist es nicht schön, Freunde. Man sitzt auf dem Boden und zelebriert Einfachheit. „Ein Leben klar wie Kristall, rein wie das Gebet“, führe Tierno Bokar, einer der beiden Meister, verkündet ein Erzähler. Es bleibt nicht der letzte Kitschsatz an diesem Abend, der auch ein Wiedersehen mit den Schauspielern Yoshi Oida und Bruce Myers bringt, Brooks Weggefährten seit so vielen Jahren.

Ja, man würde sich gern milde stimmen lassen. Aber gottseidank gibt es den Theaterteufel, der das verhindert. Nicht nur Toleranz, auch die Erlösung ist eine feine Sache, vor allem wenn sie von den Schülern des Meisters in aller Unschuld recht missverständlich zum Ausdruck gebracht wird: „Die Liebe Gottes ist in mich eingedrungen.“ Der mal unfreiwillig komischen, mal kindisch naiven Fabel über den „richtigen“ Islam entsprechen die szenischen Mittel aufs Rührendste: ins Publikum sprechen, auf dem Boden sitzen, erhaben gestikulieren. Alles überdeutlich, eindimensional.

Die Frage ist: Woher kennt man das, diese verdächtige Didaktik, mit der ein Weiser uns armen Unerlösten die Welt und ihre Rätsel erklärt? Aus dem christlichen Krippenspiel, aus dem Rollenspiel zum Konflikt- und Kommunikations-Training von Führungskräften? Nein, das Copyright auf dieses Kindertheater für Erwachsene hat Bertolt Brecht mit seinen erschütternden Parabeln und Märchen aus der Welt des Klassenkampfes.

Die gleiche künstlich ausgestellte Naivität, die gleiche Selbstgewissheit in der Präsentation einfachster Lösungen, die gleiche Geste des Vorführens, die immerfort zu sagen scheint: Liebe Kinder, gebt fein Acht ... Brecht fand chinesischeVorlagen, Brook sucht in Afrika.

Das strukturell verlogene dieser Ästhetik rührt nicht nur daher, dass hier kluge, raffinierte, mit allen Tricks vertraute Theaterkünstler mit großen, verwunderten Kinderaugen in die Welt blicken. Die spezifische Verlogenheit dieses Erbauungs-Theaters reagiert auf das Gefühl, in einer bedrohlichen Welt zu leben, mit kindgerechten Erklärungen samt Happy End, Segenssprüchen und edlen Gurus („Er liest in den Herzen“). Theater als Trostpflaster. Regression als ästhetisches Programm. Die Welt da draußen ist schließlich unangenehm genug.

Dass Brook über Jahrzehnte einer der wichtigsten internationalen Regisseure war, macht den Abend nicht besser, im Gegenteil. Zum Ärger über das selbstverliebte Kunstgewerbe auf der Bühne tritt die Trauer darüber, miterleben zu müssen, wie sich ein Gigant klein macht. Brook, ein beeindruckender Mensch, der mit seiner schieren Präsenz in den Bann zieht, feiert demnächst seinen 80. Geburtstag. Hoffentlich wird er noch viele, viele Inszenierungen entwickeln. Ein „Mahabharata“ gibt es nur ein Mal. Aber denken wir an „L’ homme qui“ von 1993 (nach den Geschichten von Oliver Sacks) oder „Qui est la?“, Brooks „Hamlet“-Etüden oder „La Tempete“, den „Sturm“ nach Shakespeare.

Dass die Sophiensäle jetzt so unwahrscheinlich stark an die Bouffes du Nord erinnern, Brooks Pariser Haustempel, stimmt einen nur melancholischer.

Gastspiel vom 17. bis 20. sowie vom 22. bis 27. Februar.

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