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Kultur: Der Spätromantiker

Kurt Sanderling, der große Dirigent des 20. Jahrhunderts, wird heute 90 Jahre alt

Von Jörg Königsdorf

Die Legende hat ihn längst eingeholt. Das Attribut des letzten Überlebenden, des Gralshüters einer untergehenden Tradition, ist Kurt Sanderling in den letzten Jahren so oft beigegeben worden wie wohl keinem anderen Dirigenten des vergangenen Jahrhunderts – und wird auch heute, zum 90. Geburtstag, wieder den Grundton der Würdigungen bestimmen: Der letzte des legendären Dirigentenjahrgangs 1912, dem neben ihm noch Solti, Celibidache, Wand und Markevitch angehörten. Der letzte große Schostakowitsch-Interpret, dessen Interpretationen noch aus der unmittelbaren Zeugenschaft und der persönlichen Freundschaft zum Komponisten schöpfen. Und vor allem der letzte Repräsentant jener Kapellmeistertradition, deren Musikverständnis noch durch eine ungebrochene Vertrautheit mit dem spätromantischen Repertoire bestimmt ist.

Sanderling selbst ist an diesem Ruf nicht ganz unschuldig: durch sein offen geäußertes Misstrauen gegenüber der Moderne (so erklärte er etwa kurzerhand Schönbergs „Moses und Aron“ für „überflüssig“) wie durch die zunehmende Konzentration auf das Repertoire, das ihm am Herzen lag. Neben Schostakowitsch war dies vor allem die Musik, zu der sich aus seinem Blickwinkel seelentiefer Spätromantik ein Zugang finden ließ: Mahler, Sibelius, Bruckner und Brahms (bezeichnenderweise dagegen nicht die extrovertierten Orchesterwerke Richard Strauss’) dominieren nicht nur den Katalog seiner Einspielungen, sondern auch die Konzertprogramme sowohl seiner prägenden Ära als Chefdirigent des Berliner Sinfonie-Orchesters von 1960 bis 1977 wie auch die anschließende Gastspieltätigkeit, die erst vor vier Monaten im Berliner Konzerthaus ihr Ende fand.

Der gerade bei harmonia mundi france erschienene Mitschnitt dieses Konzerts klingt tatsächlich wie ein Vermächtnis, das nicht nur die Musizierhaltung Sanderlings, sondern auch die einer endgültig Geschichte gewordenen Dirigentengeneration zusammenfasst. Sicher, so gewichtig beethovensch, wie der Anfang von Mozarts c-moll-Konzert daherkommt, würde heute niemand mehr dieses Werk sehen; so großräumig wie Sanderling würde kein Dirigent, der Gardiner und Harnoncourt im Ohr hat, mehr Schumanns Vierte dimensionieren. So haben ein Karl Böhm, ein Klemperer gefühlt und musiziert – ein Nagano oder ein Simon Rattle, der Sanderling zu „einem der prägenden Meister des 20. Jahrhunderts“ erklärt hat, haben zu dieser Musik bereits den kaum zu überspringenden Abstand der stilistischen Relativität.

Und doch ist es die in jedem Moment spürbare innere Bewegtheit, die Sanderlings Interpretationen jenseits des stilhistorisch Korrekten zum Hörerlebnis macht. Aus Brahms’ Haydn-Variationen spricht vom ersten Takt an jener Grundton gelassener Heiterkeit, in Schumanns Vierter entwickelt sich bei aller Überlegtheit der Tempi jenes so schwierig zu treffende Spannungsverhältnis von klassischer Form und romantischem Überschwang. Freilich wundert es nicht, dass Sanderlings Ruf als Interpret eben dort am größten ist, wo die stilistische Korrektheit und die innere Empfindung am stärksten übereinstimmen: bei den Sinfonien Schostakowitschs, die der aus Berlin Emigrierte als Kapellmeister der Leningrader Philharmoniker kennen und verstehen lernte. Aus einer vor einiger Zeit bei Edel-Classics erschienenen Box mit den wichtigsten Sanderling-Aufnahmen seiner BSO-Ära ragen gerade die Aufnahmen der Schostakowitsch-Sinfonien 5, 8, 10 und 15 in ihrer zugleich verhaltenen und unerbittlichen Intensität hervor.

Vielleicht ist es auch ein wenig die Erkenntnis, dass seine Epoche bereits zu Ende gegangen ist, die Sanderling bewogen hat, seiner körperlichen Agilität zum Trotz dem Dirigentenpult den Rücken zu kehren. Zum Neunzigsten lässt er sich feiern: von den Philharmonikern und Simon Rattle. Denn große Könige bestimmen selbst ihre Nachfolger.

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