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Kultur: Der Sprengmeister

Eine Künstlerfreundschaft wie ein halbes Leben: dem Komponisten, Dirigenten und Musikdenker Pierre Boulez zum 80. / Von Daniel Barenboim

Wenn ich an meine erste Begegnung mit Pierre Boulez zurückdenke, dann wird mir heute noch mulmig. Es sollte mein Debüt bei den Berliner Philharmonikern werden, und es wurde mein Debüt bei den Philharmonikern – allerdings kannte ich weder den jungen französischen Komponisten, der das Konzert dirigieren würde (was allein meiner Ignoranz zuzuschreiben war) noch Bartóks erstes Klavierkonzert, das auf dem Programm stand (woran ich sofort und mit großer Begeisterung etwas änderte). Der Abend, der im Frühjahr 1964 stattfand, gehört zu den unvergesslichsten meines Lebens. Zum einen war ich von Boulez’ musikalischer Persönlichkeit vom ersten Augenblick an fasziniert, von der Art und Weise, wie er Musik wahrnahm, analysierte, erlebte. Zum anderen handelte es sich mit seinen „FiguresDoubles-Prismes“, mit Schönbergs „Lichtspiel-Szene“ und Strawinskys „Quatre études pour orchèstre“ schon im ersten Teil um ein extrem schwieriges Programm. Und was den zweiten Teil angeht: Die Philharmoniker hatten das Bartok-Konzert 1926 zum letzten Mal gespielt! Die 23 Minuten jedenfalls, die das Konzert dauerte, fühlten sich für mich wie 24 Stunden an, kaum je hatte ich mich auf derart schwankendem, unsicherem Boden bewegt.

Das war der Beginn einer für mich extrem wichtigen persönlichen und künstlerischen Freundschaft, die mittlerweile über 40 Jahre andauert. Ich bin in Argentinien und in Israel aufgewachsen, das heißt, „meine“ zeitgenössische Musik bestand aus Bartok (der nur sieben Jahre, bevor wir nach Israel zogen, gestorben war) und Strawinsky (den ich später persönlich traf). Natürlich kannte ich die sowjetischen Komponisten, Prokofjew und sein erstes Klavierkonzert, Schostakowitsch, auch Kabalewsky und Khachaturian. Aber als Pierre Boulez und ich kurz nach meinem Berlin-Debüt in Paris zusammen Alban Bergs Kammerkonzert aufführten, da bin ich zum ersten Mal – man stelle sich vor! – mit der Zweiten Wiener Schule in Berührung gekommen. Es war sehr aufregend für mich, zu sehen, dass Boulez immer den ganzen Schönberg sah: vom Ausreizen der harmonischen Mittel in den frühen Jahren, über den Bruch mit der Harmonik bis hin zur Zwölftontechnik. Mit Pierre Boulez war jemand in mein Leben getreten, der sich der Musik weit weniger vom Harmonischen her näherte als ich. Ihm waren Strukturen wichtig, nein: wichtiger, Strukturen und Formen.

Als Dirigent hat Boulez der Welt aber nicht nur den Zugang zur Zweiten Wiener Schule erleichtert, er hat auch dafür gesorgt, dass diese Musik bald ins reguläre Repertoire der Orchester gehörte. Er besaß und besitzt die Fähigkeit, Kompositionen von Schönberg, Berg und Webern von innen her so zu erhellen, so durchsichtig zu machen, dass sie all ihre Gesetzmäßigkeiten und Feinheiten offenbaren. Befragt nach der herausragenden Eigenschaft des Dirigenten Pierre Boulez, würde ich antworten: Es ist eben dieses Vermögen, jede einzelne Note hörbar zu machen – und sei der jeweilige Kontext auch noch so komplex. Bei ihm sind alle Stimmen jederzeit hörbar. Denn das allein ist die Voraussetzung, so lehrt er uns, in einer Musik überhaupt zwischen den Zeilen lesen zu können.

Zu Boulez’ eigener Musik kam ich etwas später. Das erste Stück, das ich lernte, war „Le Marteau sans maître“, das erste, was ich dirigierte, ein Satz aus „Pli selon pli“. Seine Musik wurde zum festen Bestandteil meines Repertoires und auch „meiner“ Orchester. Eines der Hauptprobleme der zeitgenössischen oder neuen Musik besteht ja darin – und hier sind Boulez und ich uns absolut einig –, dass die Stücke nicht oft genug wiederholt werden. Zwangsläufig fehlt es an der nötigen Vertrautheit – sowohl bei den Musikern als auch beim Publikum. Es war Nietzsche, der einmal gesagt hat, am Ende lieben wir nur, was wir kennen. Dieser Satz ist sehr wahr. Man kann es auch anders formulieren: Die Vertrautheit mit einer Musik ist nichts, was wir verachten dürfen. Ich habe das mit Boulez’ „Notations“ erlebt, die heute sowohl vom Orchèstre de Paris als auch von der Berliner Staatskapelle als selbstverständlich angesehen werden. Und wenig anders verhält es sich bei den Berliner Philharmonikern oder beim Chicago Symphony Orchestra.

Boulez’ Stücken gelingt es immer, aus dem musikalischen Material das Maximum an Möglichkeiten zu schöpfen. Wenn er die Wahl hat, etwas ganz simpel auszudrücken oder es komplexer zu sagen und damit: farbiger, interessanter, dann wird er immer die zweite Möglichkeit bevorzugen. Er glaubt nicht daran, dass die größte Kunst zwangsläufig in der größtmöglichen Einfachheit liegt. Aber er hat einen untrüglichen Sinn für alles, was mit Orchestration zu tun hat. Auch Menschen, die sich mit seiner Sprache, seiner musikalischen Idiomatik grundsätzlich eher schwer tun – und das zeigt sich an Orchesterstücken wie den „Notations“ –, sind vom Reichtum seiner Farben oft hingerissen. Überhaupt ist der Aspekt der Farbe integraler Bestandteil von Boulez’ musikalischem Denken. Ich bin sicher, er stellt sich beim Komponieren das Material zunächst ganz abstrakt vor, als eine Reihe von Noten. Aber sofort danach – wenn ich an dieser Stelle ein wenig weiter spekulieren darf – ordnet er bestimmte Farben zu. Dabei ist die Farbe nicht das Sahnehäubchen oben auf der Torte. Sie ist Teil der Torte selbst.

Um Pierre Boulez’ lebenslange Rebellion gegen die französische Musikkultur zu verstehen, muss man wissen, dass diese Kultur – vorsichtig ausgedrückt – stets ihren eigenen Gesetzen gehorcht hat. Das gilt auch und gerade für die Pflege des Repertoires. Wenn Strawinskys „Sacre du Printemps“ (1913) in Paris vor Brahms’ d-Moll Klavier-Konzert (Uraufführung 1858, in Paris erst 1936!) aufgeführt wird, dann ist wohl etwas nicht in Ordnung! Boulez hat das französische Musikleben von Anfang an heftig kritisiert – und zwar keineswegs einseitig. Es gab viele wichtige musikalische Entwicklungen, die in Frankreich fehlten. Und es existiert bis heute eine chauvinistische Sicht auf die französische Musik, ungeachtet ihrer Qualität. Pierre Boulez aber hat sich immer als Internationalist verstanden, als ästhetischer Kosmopolit, dem es in erster Linie um die Weiterentwicklung der Kunst und die Weitererforschung der Musik gegangen ist.

Warum Boulez’ Protest so stark und so erfolgreich war? Weil er von einem immensen Wissen getragen wurde. Die Traditionalisten sahen das Ende der tonalen Musik mehr oder weniger mit Wagners „Tristan“ gekommen. Danach habe mit der Atonalität etwas ganz Neues begonnen. Boulez hat darüber immer anders gedacht. Er sah die Verbindung, die Kontinuität zwischen dem einen und dem anderen. In diesem Licht muss beispielsweise sein Mahler gesehen und verstanden werden. Boulez war Revolutionär – im Sinne der Evolution. Er hat niemals nur behauptet, die Vergangenheit sei vergangen.

Ich erinnere mich noch sehr gut, als Boulez einmal zu einem Konzert mit Bruckners Achter kam, das ich in Paris dirigierte. Er fand die Musik „banal“, wie er mir gestand, worauf ich erwiderte, der langsame Satz aber müsste ihn doch interessieren, dieser Rhythmus zwei gegen drei. „Oh“, rief Boulez, „das gibt es doch schon viel früher und viel besser im zweiten Akt von Wagners ,Tristan’!“ Und damit war das Thema Bruckner für ihn erledigt. Zehn Jahre später – und hier zeigt sich seine Intelligenz und Größe! – hatte er sein Urteil über Bruckner revidiert. Natürlich ist es immer ehrenvoll und mutig, an den eigenen Überzeugungen festzuhalten. Boulez aber weiß, dass bestimmte Ansichten durchaus auch an ein bestimmtes Alter, ja an eine ganz bestimmte Zeit geknüpft sind. In den 70er Jahren – als er beispielsweise das Ensemble Intercontemporain gründete – war es für ihn geradezu notwendig, die Schönheiten bei Bruckner nicht zu sehen, weil er musikalisch auf einem ganz anderen Planeten für eine ganz andere Sache kämpfte.

Auch wenn es vielleicht so aussieht, als sei Pierre Boulez ein Mann großer Widersprüche: Er ist es nicht. Was seine Anschauungen betrifft, so gibt es darin nichts Paradoxes. Boulez besitzt einen ausgeprägten Sinn für die Klarheit des Denkens – und für den Augenblick. Wenn der Augenblick vorüber ist, dann ist er immer bereit, das Gedachte ganz anders und neu zu reflektieren. Das ist eine seltene Qualität, künstlerisch wie menschlich. Was ich mir erhoffe? Dass er noch lange weiter komponiert. Was ich ihm wünsche? Kraft! Inspiration! Et bon anniversaire!

Der Autor ist Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden.

Die Festtage der Staatsoper widmen Pierre Boulez zwei Konzerte: Am Ostersonntagmorgen dirigiert er Mahlers Auferstehungssinfonie (11 Uhr, Philharmonie) sowie am Abend, neben Daniel Barenboim, eigene Werke (18.30 Uhr, Staatsoper). Restkarten unter Telefon 2035 4555.

Pierre Boulez , am 26. März 1925 in Südfrankreich geboren, studiert Komposition bei Olivier Messian und René Leibowitz . 1953 gründet er die Pariser Konzertreihe „Domaine Musical“, die sich ausschließlich moderner Musik widmet. Mit „Le Marteau sans maître“ feiert er 1955 den Durchbruch als Komponist. 1966 eröffnet er mit „Parsifal“ die Bayreuther Festspiele , 1967 wird er zum ersten Gastdirigenten nach Cleveland berufen. 1968 fordert er im Spiegel „Sprengt die Opernhäuser in die Luft!“ , 1970 gründet er das IRCAM, 1975 das Ensemble Intercontemporain . 1976 dirigiert Boulez den Bayreuther Jahrhundert-„Ring“ und wird Professor am Collège de France. 1979 leitet er die Uraufführung der dreiaktigen Fassung von Bergs „Lulu“ . Er ist Gründungsmitglied der Pariser „Cité de la Musique“. Seit 2004 steht er in Luzern der „Pierre Boulez Academy“ vor.

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