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Kultur: Der Sprung in die Moderne

Wohin der Blick auch schweift – er fällt auf Franz Marcs „Rote Pferde (Weidende Pferde IV)“ von 1911. Auf dem Katalogumschlag, auf dem Leporello, schließlich auf dem „Folkwang-Bus“, der vom Hauptbahnhof bis vor die Tür rollt.

Wohin der Blick auch schweift – er fällt auf Franz Marcs „Rote Pferde (Weidende Pferde IV)“ von 1911. Auf dem Katalogumschlag, auf dem Leporello, schließlich auf dem „Folkwang-Bus“, der vom Hauptbahnhof bis vor die Tür rollt. Essen steht im Zeichen der Klassischen Moderne. Oder besser: im Zeichen des Folkwang-Museums, das seine architektonische Neuerstehung in Gestalt des von David Chipperfield hingezauberten Neubaus mit der Erinnerung an die einstige Sammlung feiert. Darin war das große Marc-Gemälde ein Hauptwerk, noch im Entstehungsjahr vom Künstler erworben und 1922 mit der Sammlung von Hagen nach Essen gewandert, bis es in jenem rabenschwarzen Sommer 1937 mit 138 weiteren Gemälden als „entartet“ von den Nazis beschlagnahmt wurde.

Beschlagnahmt wurde auch das neunteilige Altargemälde von Emil Nolde, „Das Leben Christi“, das seinerzeit allerdings als Leihgabe Noldes im Museum hing und dem Künstler darum auch – so legalistisch konnten die Nazis sein – zurückgegeben wurde. Jetzt glüht diese farbkräftige Arbeit wieder in einem Hauptsaal des Museums, erneut als Leihgabe aus Noldes heimatlichem Seebüll. Andere Gemälde sind Ikonen der Klassischen Moderne und des Folkwang-Museums zugleich, ob Vincent van Goghs „Garten in St. Rémy“, Paul Gauguins „Barbarische Erzählungen“ oder Paul Cézannes „Steinbruch Bibémus“, mit dem sich die Geschichte des geglückten Rückkaufs von 1964 verbindet.

Keine Entwicklungsgeschichte, kein Auf und Ab, nur lauter Höhepunkte: Das ist die Ausstellung „Das schönste Museum der Welt“.

Das neue, nun auch architektonisch in die allererste Reihe drängende Museum Folkwang leiht sich für die Dauer von immerhin vier Monaten den einstigen Glanz der Sammlung, die nach 1937 unwiederbringlich in alle Winde zerstreut wurde. Zugleich erinnert das Folkwang an seinen Gründer, den Millionenerben Karl Ernst Osthaus, der im westfälischen Hagen ab 1902 das herkulische Unternehmen nicht allein einer Sammlung moderner Kunst, sondern mehr noch der Volksbildung und -erziehung unternahm. Vor einem Vierteljahrhundert, 1984, rief Hagen den rastlosen Osthaus in einer bis heute nachwirkenden Ausstellung ins öffentliche Bewusstsein zurück; diesmal, in Essen, kommt die Person, ohne die kein Folkwang wäre, entschieden zu kurz. Erst mit Osthaus’ frühem Tod 1921 und dem folgenden Verkauf nahezu aller Bestände ins kunstsinnigere Essen mündete das Vorhaben in unverrückbare Bahnen – aber eben auch in jene staatliche Entscheidungsgewalt, die der Sammlung 1937 zum Verhängnis wurde.

Damit legt sich das Folkwang des Jahres 2010 selbst die Messlatte denkbar hoch, wirkten doch die Sammlung und ihre Konzeption prägend auf die Entwicklung moderner Kunstmuseen ein. So ist der Titel der jetzigen, von der ortsansässigen Eon Ruhrgas maßgeblich finanzierten Ausstellung, „Das schönste Museum der Welt“, ein Zitat von Paul J. Sachs aus dem Jahr 1932, als der einflussreiche Harvard-Kunsthistoriker Essen besuchte. Sachs, das ist eine eigene Geschichte, war der Lehrer von Alfred Barr jr., dem Gründungsdirektor des New Yorker Museum of Modern Art – und so nimmt das Folkwang nicht zu Unrecht für sich in Anspruch, maßgeblich Anteil zu haben an der Entwicklung des Museums des 20. Jahrhunderts, für das die New Yorker Neugründung des Jahres 1929 mehr als irgendeine andere steht.

Manet und Cézanne, van Gogh und Gauguin, Kandinsky, Marc und Kirchner und schließlich Oskar Schlemmer: Es ist eine Parade großer Namen, die sich in dem temporären Raumgefüge innerhalb der Sonderausstellungshalle findet. Und doch handelt es sich nicht um den sattsam bekannten Parcours durch die Kunstgeschichte der – längst klassisch gewordenen – Moderne. Denn Gastkurator Uwe M. Schneede, durch jahrzehntelange Museums- und Forschungstätigkeit ausgewiesen, bringt die bisweilen verwirrende Eigenart der Folkwang-Sammlung zur Ansicht. Dabei helfen die Durchblicke, die die Räume bieten, enorm; und da es zwar eine festgelegte Abfolge der 16 Räume gibt, nicht aber einen zwanghaft festgelegten Besucherrundgang, sind Sprünge etwa vom Im- zum Expressionismus ganz selbstverständlich.

Die größte Überraschung aber ist, neben den Meisterwerken, die sich heute ausnehmen, als ob sie niemals fortgegeben worden wären, ganze Räume mit Objekten außereuropäischer Kulturen zu finden. Der Zahl nach überwiegen sie sogar mit zehn zu sechs: japanische Theatermasken und koptische Textilien, islamische Keramik und, als wichtigste Abteilung, ozeanische Zeremonialskulpturen. Es fehlt allerdings, was seit Carl Einsteins bahnbrechendem Buch von 1920 „Negerplastik“ genannt wurde; da die gezeigten Objekte ausnahmslos den bis dato nie geöffneten Depots des Museums entstammen, dürfte da wohl eine Lücke bestehen, die Museumsgründer Osthaus von Anfang an geschlossen hatte, als er bereits 1912 in Paris art nègre erwarb.

Schneede allerdings geht weit hinter Osthaus zurück, indem er die außereuropäischen Objekte streng von der modernen Kunst separiert. Der ästhetische Impuls, den Osthaus im Gefolge der zu seiner Zeit allermodernsten Künstler aufnahm und der ihn, eigener Aussage zufolge, nach „rein künstlerischen Zwecken“ kombinieren ließ, was immer ihm visuell ähnlich schien, dürfte mittlerweile zum Problem geworden sein. Ist es politische Korrektheit, die eine solche ästhetisierende Sicht, wie sie die Künstler von Picasso bis Kirchner besaßen, inzwischen verbietet? „Gleichrangigkeit“ fordert Schneede ein – aber genau das wollte Osthaus deutlich machen, zu einer Zeit, die in tief verwurzelten Vorurteilen gegenüber dem Fremden befangen war.

Die außereuropäischen Bestände des Folkwang sind gewiss nicht von erster Qualität, da war Osthaus bei Weitem nicht auf der Höhe seines Urteils. Aber der Gedanke, Formverwandtschaften aufzuspüren – oder ganz einfach, wie Osthaus’ Frau Gertrud es formulierte, „das Leben dieser Werke hemmungslos (sich) vereint zu sehen“ –, diesen Gedanken aufzugeben, verfälscht die Eigenart des Folkwang-Museums. Zumal erst in Essen, im eigens errichteten Neubau von 1929, das Osthaus’sche Konzept in voller Breite ausgeführt werden konnte, wie die bald nach der Eröffnung angefertigten Fotografien des neusachlichen Albert Renger-Patzsch eindrucksvoll belegen.

Osthaus steht am Beginn der Folkwang-Idee, doch blieb sie lebendig. Für den Essener Museumsbau sah Ernst Gosebruch, der kongeniale Direktor, zwei Wandbildzyklen vor. Mit dem einen wurde Ernst Ludwig Kirchner beauftragt, mit dem anderen nach einem Wettbewerb Oskar Schlemmer. Kirchners Vorhaben steckte noch in Skizzen, als die NS-„Machtergreifung“ alle Pläne zunichte machte, Schlemmers Zyklus auf mobilen Leinwänden ist seit 1937 verschollen. Jetzt künden Skizzen und Pastelle von der Monumentalmalerei, die die Künstler der Moderne stets erhofften und fast nie ausführen konnten. So findet die grandiose Ausstellung im Chipperfield-Neubau ein melancholisches Ende. Ohne die Nazis, ohne die Schmähung der „Entartung“ ist die Moderne hierzulande eben nicht zu denken.

Essen, Museum Folkwang (Bus ab Hauptbahnhof Süd), bis 25. Juli, Di–So 10–20 Uhr, Fr bis 24 Uhr. Katalog 29 €,

www.dasschoenstemuseumderwelt.de

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