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Kultur: Der Tod holt sich den Chor

Völkermord unter dem Schutz der Vereinten Nationen: eine antike Tragödie der Gegenwart

Srebrenica ist ein Städtchen in Bosnien und Herzegowina. Heute vor zehn Jahren, am 11. Juli 1995, fiel Srebrenica, Schutzzone der Vereinten Nationen, in die Hände serbischer Soldaten. 8000 Menschen wurden ermordet oder verschwanden, vor allem bosnische Muslime, die in dieser Enklave lebten. Ich bin mir nicht sicher, wie man heute über einen solchen Jahrestag schreiben kann, in einer Welt, in der so viele Hexenmeister darauf spezialisiert sind, Vergessen zu produzieren. Hat es irgendeinen Sinn, in einer Zeit, in der „neu“ gleichbedeutend ist mit „gut“, auf eben diesem Erinnern zu bestehen?

Gibt es überhaupt noch Begebenheiten, die unser Bild vom technischen Fortschritt und den Wundern der Wissenschaft erschüttern können? Ist unsere Welt, zehn Jahre nach dem Fall von Srebrenica, anders oder besser geworden? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mein Gefühl von Ungeschütztsein und Unsicherheit mitteilen möchte, das Empfinden der Angst, in einer Welt leben zu müssen, in der so etwas wie Srebrenica geschehen kann.

Da ich als Dramatiker arbeite, denke ich über dieses Thema wie über vieles andere am liebsten nach, indem ich mich der Tradition des europäischen Dramas zuwende. Häufig scheint es mir, dass Europa mehr und mehr sein antikes Erbe vergisst. Jedesmal wenn ich eine Zeitung zur Hand nehme, fürchte ich mich davor zu lesen, Archäologen hätten in Griechenland die Ruinen eines Hollywood-Filmstudios entdeckt, oder dass Hollywoodfilme zur Basis der europäischen kulturellen Identität erklärt werden. Ereignisse wie Srebrenica machen uns bewusst, dass wir für Situationen, die derart verdichtet von unserer Gegenwart sprechen, noch keinen besseren Ausdruck gefunden haben als den der Tragödie. Srebrenica ist eine Tragödie; keine antike, sondern eine zeitgenössische. Srebrenica heißt Silbermine. Immerhin lassen mich einige Parallelen zur antiken Tragödie etwas besser begreifen, wie es möglich war, dass sich diese Katastrophe am Ende des Silbernen Zeitalters des menschlichen Fortschritts ereignen konnte.

In der antiken Tragödie ist es der Held, den der Tod ereilt. In Srebrenica holte der Tod sich den Chor. Wer auch nur die leiseste Ahnung von der antiken Tragödie hat, dem wird klar sein, was für ein grauenvolles Unglück der Tod des Chors bedeuten muss. Es wäre das Sterben der menschlichen Gesellschaft selbst. Denn mit dem Chor müsste die „Ideologie des Goldenen Zeitalters“ enden, auf die sich jede Gesellschaft von der Antike bis zur Gegenwart gründet. Außerdem hätte man im tödlichen Scheitern des Chors ein deutliches Zeichen dafür erkannt, dass die kosmischen Ebenen der Existenz durcheinander gebracht sind. Ohne den Chor wird es unmöglich, auf das Ausmaß der menschlichen Freiheit hinzuweisen.

Srebrenica ist eine zeitgenössische Tragödie, auch wegen der technischen Voraussetzungen für diese entsetzlichen Taten, die vor unserer Epoche der Hochtechnologie nicht denkbar gewesen wären. Eine Maschinerie, mittels derer sich Massengräber ausheben und wieder verbergen lassen, Kampfstoffe und andere Mittel zum Massenmord, all das hat erst das Zeitalter hervorgebracht, in dem wir leben. In der antiken Tragödie wurden die Urheber solcher Untaten von Erynnien verfolgt. Ich weiß nicht, wie es heute um diese verabscheuungswürdigen Wesen steht. Aber ich weiß, dass sich die Mörder von Srebrenica zehn Jahre nach ihren Taten noch immer auf freiem Fuß befinden.

Der Tod eines Menschen war einst auch ein wichtiges, metaphysisches Ereignis. Srebrenica weist darauf hin, dass es heute möglich ist, den Tod eines Menschen zu bewirken, als sei man ein Angestellter im öffentlichen Dienst. Einer der Angeklagten, die am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag über ihre Mittäterschaft aussagten, erläuterte, er habe gemordet, weil er Soldat der Armee der Republika Srpska war und weil man es ihm befohlen hatte. Auf dem kürzlich veröffentlichten Film, der die Exekution von sechs Jugendlichen aus Srebrenica zeigt, sieht man die Täter ihre Arbeit mit Routine ausführen, ohne Anzeichen der geringsten Emotion. Weil dieser Film ans Licht kam, wurde es möglich, dass eine Frau aus Srebrenica die Ermordung ihres Sohnes zehn Jahre danach im Fernsehen verfolgen konnte. Und dass diese Mutter vorher hört, wie der serbische Militär, der den Film drehte, sich über die Unzuverlässigkeit der Technik beschwert. Auf dem Video hört man ihn saftige Flüche ausstoßen, weil die Batterie seiner Kamera zu Ende geht. Der Untergang der Welt, schrieb einmal ein Dichter, beginnt mit einer unscheinbaren Geste.

Ich weiß nicht, ob Srebrenica ein Beweis dafür ist, dass der Untergang der Welt begonnen hat. Aber dass ein Erdbeben die Wirklichkeit erschüttert, wenn in einer Schutzzone der Vereinten Nationen solche Verbrechen geschehen können, dessen bin ich mir sicher. Im Unterschied zu den Epochen, da man die Frage nach Wahrheit und Strafe als metaphysische Frage verstand, gehört sie heute zum Gesellschaftsvertrag. Anders als früher, von der Antike über das Mittelalter bis hin zu Goethes „Faust“, gilt für einen Vertrag der Vereinten Nationen kein Ehrenkodex mehr, vielleicht auch, weil er nicht mit dem eigenem Herzblut unterschrieben ist, sondern mit dem der anderen.

Es liegt eine erschreckende Ironie in der Tatsache, dass in einer Zeit, da die Wissenschaft einen alten Traum der Philosophie, der Religion und diverser Ideologien von der Machbarkeit des neuen Menschen erfüllt, in einer Zeit also, da diese neuen Menschen tatsächlich entstehen, aus einer UN-Schutzzone 8000 Menschen buchstäblich – verschwinden.

Der kroatische Schriftsteller Miroslav Krleža erfand für das 20. Jahrhundert das Bild vom Affen, der am Steuer eines Flugzeugs sitzt. Srebrenica ist der grausame Beweis für die Triftigkeit dieses Bildes. Gleichzeitig scheint Srebrenica wie die Erfüllung jenes Albtraums, in dem der Mensch zum Objekt der Wissenschaft wird. Mit Srebrenica bewahrheiten sich die Ängste, die Georg Büchner vor 170 Jahren plagten, als er den „Woyzeck“ schrieb. Als Mensch zum Versuchsobjekt der Wissenschaft degradiert, mordet der Soldat Woyzeck seine Liebste, die Mutter seines Sohnes, den er der Obhut eines Idioten übergibt. Dieses Drama, das vom Zerfall des Gewissens und von der symbolischen Kreuzigung eines Menschen erzählt, endet mit dem kalten Fazit des Gerichtsdieners: „Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord, so schön, als man ihn nur verlangen tun kann, wir haben schon lange so kein gehabt.“

Büchner kündigte die Möglichkeit an, dass sich die Welt in einen Ort verwandeln kann, wo ein Ereignis – die gefilmte Ermordung der sechs Jungen in Srebrenica – für unterschiedliche Menschen vollkommen verschiedene Bedeutung erlangt. Die Kassette mit dem Film dieser Ermordung, die für die Mutter des Opfers unerträglichen Schmerz bedeutet, konnte man in serbischen Videotheken unter dem Ladentisch ausleihen. Büchner hat mir geholfen zu begreifen, in welcher Welt ich lebe.

So wie mir Bertolt Brecht geholfen hat, ein Stück vom Leid jener Mütter von Srebrenica zu begreifen, die überall umherreisen müssen, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind. Wie Mutter Courage ohne ihre Kinder. Am Elften eines jeden Monats versammeln sich Frauen aus Srebrenica auf einem Platz in der Stadt Tuzla. Sie tragen Tücher, auf die sie Namen ihrer Tausenden von Vermissten gestickt haben. Sie stehen einfach nur auf diesem Platz und fordern Gerechtigkeit. Dann gehen sie wieder auseinander, jede zu ihrem Leid, zu ihrer Einsamkeit. Sie wissen: Wir leben in einer Welt, in der Opfer keine Helden sein können, denn dieser Platz ist für die Täter reserviert.

Vielleicht sollten diese Frauen fragen, in welcher Welt wir leben. Oder ist das ohnehin sinnlos? Haben wir den Überlebenden der Shoah nicht gut genug zugehört? Was bedeutet uns Srebrenica? Was ist für uns ein Mensch?

Almir Basovic, Jahrgang 1971, lebt als Dramatiker in Sarajewo und lehrt Theaterwissenschaften an der dortigen Universität. Sein Theaterstück über die Witwen von Srebrenica, „Erscheinung aus dem Silbernen Zeitalter“, hatte 2003 am Nationaltheater in Sarajewo Premiere. Vergangene Woche gastierte es in Amsterdam. – Aus dem Bosnischen von Caroline Fetscher.

Almir Basovic

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