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Kultur: Der Traum vom Küssen

Ein Traum vom Fliegen durchweht, von Raum zu Raum, von Schau zu Schau, den Berliner Martin-Gropius-Bau. Dort eröffnet heute, im ersten Stock, eine Ausstellung, die etwas anders ist als andere.

Ein Traum vom Fliegen durchweht, von Raum zu Raum, von Schau zu Schau, den Berliner Martin-Gropius-Bau. Dort eröffnet heute, im ersten Stock, eine Ausstellung, die etwas anders ist als andere. Phantastische, von Psychiatrie-Patienten konstruierte Flugmaschinen erwarten dort den Besucher; in einer Vitrine am Fenster schwebt hochgepusteter weißer Flaum unter der Aufschrift "Der Gedanke sollte nie schwerer sein als eine Feder". Wer aber herausblickt aus dieser Inszenierung und ihrem Eingangsbereich, vorbei an einem Astronauten, der auf den Altären der Vollkommenheit das Triptychon Leistung beherrscht, vorbei an der futuristischen Jahrhundert-Ikone des Gläsernen Menschen von 1930, und über die Galerie in den pathetischen Lichthof blickt: der sieht dort ein perfektes Mini-Modell jener geflügelten Siegesgöttin, die einst im antiken Olympia stand, daneben ihre Dreieckssäule in originaler Neunmeterhöhe, mit Frau Nike in Originalgröße - als versehrter Torso. Darüber: kreisende Adler im Perpetuum Mobile. Das Auftakt-Szenario der Großausstellung "Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit" korrespondiert aufs Hintersinnigste mit der sozialphilosophischen Provokationsanstrengung des Deutschen Hygiene-Museums, die - betitelt "Der (im-)perfekte Mensch" - in ihrem Untertitel "Das Recht auf Unvollkommenheit" propagiert.

Unvollendete Vergangenheit

Imperfekt ist, wie Grammatiker wissen, die unvollendete Vergangenheit. Im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, das sich zu Weimarer Zeiten für ein demokratisiertes Gesundheitswesen und im "Dritten Reich" für die Rassenbiologie engagierte, weiß man um die Zukunftsträchtigkeit von Vor-Geschichten. Das Institut hat sich als "Museum vom Menschen" seit 1991 mit interdisziplinären Projekten einen Namen gemacht; "Der (im-)perfekte Mensch" - realisiert in Zusammenarbeit mit der "Aktion Mensch", die vormals politisch unkorrekt "Aktion Sorgenkind" hieß - lockte in Dresden bereits 170 000 Besucher an. Die Ausstellung inszeniert Schnittstellen und Reibungsflächen: zwischen historischen Hypotheken und Zukunftsdebatten. Zwischen "Perfektion", "Normalität" und "Realität". Zwischen Normalos und ihren Behinderten. Ein roter Faden, als Plastikbuckel am Boden verlaufend, führt Blinde von einer Kammer zur nächsten, vor taktile Lesepulte: Die Würde des Menschen ist abtastbar. Der Eingang es Hauses wurde vom Freitreppenportal an die rollstuhlfreundliche Südfront verlegt, markiert mit einem roten Läufer. Funkanlagen für Schwerhörige, Taubstummensprache auf Videofilmen, behinderte Museums-Führer: die Ausstellung als Labor der Gleichberechtigung und Wahrnehmungsverschiebung.

Die aktuelle bioethische Debatte und das Thema Körperwahrnehmung, sagen Gisela Staupe und Heike Zirden, die Kuratorinnen, seien in Berlin, der Zweitstation, stärker berücksichtigt worden. Nach dem Prolog-Raum, der zeitgenössische Altäre der Vollkommenheit mit einem Archiv menschlicher Unzulänglichkeit kontrastiert, führt der Rundgang durch Welten: das erweiterte Feld sinnlicher Kommunikation. Sehen: ein kosmischer Globus zum Tasten (wer aus dem Fenster schaut, blickt auf die Baustelle der "Topographie des Terrors"). Hören: das Taubstummenalphabet als Parade gipserner Hände; ein musizierend-vibrierendes Trommelfell. Verstehen: der Symbolkalender eines Schizophrenen. Bewegen: der Rollstuhl Präsident Roosevelts. Berühren: eine Kunstinstallation gespaltener, gedellter Tische, auf die ein Film von flimmerndem Wasser und sich umarmenden Planschmenschen projiziert wird. Hier - wie in anderen interaktiven Winkeln - soll der Besucher Hand anlegen. Bisweilen dominiert Sendungsbewusstsein den sozialpädagogischen Parcours: "Gut gemeinte Propaganda" hatte schon in Dresden die "FAZ" kritisiert.

In Berlin, wo Schirmherr Johannes Rau dem Eröffnungsfestakt beiwohnt, dröhnen die Untertöne staatstragender Goodwill-Appelle noch nachhaltiger. Die Veranstaltung im Abgeordetenhaus wird eindrucksvoll gerahmt durch die "körperlich herausgeforderte" Theatertruppe RambaZamba. Eine Schauspielerin mit roten Füßen, bandagierten Knien und schwarzem Hut spielt schrill Klarinette. Beschmiert sich die Wange, verdeckt sie mit einem Tuch. "Ich habe die Ursache meies Gesichts noch nicht gefunden," schreit sie. "Ich werde es niemals verstehen." Er habe vor 40 Jahren gute Reden zur Behindertenpädagogik gehalten, sagt der Bundespräsident, aber in der Begegnung mit einem Contergan-Kind versagt. Perfektionsstreben und Rendite müssten im Markt gelten, "aber wenn wir unser Leben zum Markt machen, verlieren wir die Maßstäbe, dann sind wir krank". Noch schärfer artikuliert der durch seine Glasknochenkrankheit verkrüppelte Schauspieler Peter Radtke die politische Dimension. "Flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl" habe sich Hitler den perfekten Menschen gewünscht. Er fühle sich bedroht durch biotechnische Experimente, sagt Radtke, und definiert den Schmerz als Quelle der Kunst. "Rote Lippen soll man küssen" schmettert das RambaZamba-Ensemble: eine hinreißende Herausforderung zur konkreten Körperlichkeit, eine parodistische Hinterfragung aller gönnerhaften Sozialutopien.

Diese Gratwanderung zwischen Utopie und Realität gelingt der Ausstellung nicht oft genug. In ihrem zweiten Teil Raster zeigt sie die Reaktion der so genannten normalen Mehrheit auf die körperlich-seelischen Abweichler im Lager der Behinderten. Die gestalterische Darstellung dieses Komplexes durch Fred W. Berndt überzeugt. Die Raster-Säle sind gekachelt. Die Würde des Menschen wird abwaschbar, der Grenzen überwindende Flucht-Traum vom Fliegen zerschellt im Raum der Fliesen und ihren Fugen. Normieren, weißgrüngekachelt: Hier erhält der Unvollkommene die Prothesen der Normalität, hier wird der Beunruhigte in den Zwangssessel der verordneten Ruhe eingebunden. Mauern, weißgekachelt: Hier bewohnen "die Anderen" ihr abgeschlossenes Anstaltsreich. Selektion, schwarzgekachelt: Hier dräuen die Leitzordner der Euthanasie. Doch gerade an dieser politisch-historischen Zuspitzung des Themas greift die kurze Geschichte der Unvollkommenheit zu kurz. Böse ist der Ordnungswahn. Ist gut demnach die Unordnung? Dass ökonomische Zwänge und Konzepte zur Ausgrenzung führen und somit ebenfalls die heutige Gesundheitspolitik beeinflussen, hätte an dieser Stelle (und nicht erst im finalen Debattensaal) aufgezeigt werden müssen - als unangenehmer Anschluss an die modernen, rationalen Elemente der NS-Ideologie.

Nur leben ist schöner

In der Schlußkurve präsentiert sich "Der (im)perfekte Mensch" als einer, der sich ausdrückt und befreit. Ein Raum, von dessen Wände die Kacheln abgeschlagen wurden, verweist auf Selbsthilfe-Organisationen der "Betroffenen", verkörpert durch aufgehängte Arzneischränkchen. Bildende Kunst von Behinderten und ein Film über Tanztheaterprojekte: verblüffend, weil der Unterschied zum "normalen" künstlerischen Ausdruck nicht sofort zu ersehen ist. Der Künstler als Behinderter und Vollkommener par excellence. Die Ausstellung demonstriert Behinderung und den Umgang damit als Übungsfeld einer Gesellschaft, die pluralistisch sein möchte, aber Maßstäbe ihres Zusammenhaltes nicht mehr durch Werte, sondern zunehmend über normierte Funktionalität formuliert. 13 Millionen Menschen, die körperlich oder seelisch nicht so funktionieren, wie sie sollten, soll es in Deutschland geben. Dass gleichwohl jeder von uns seine Art der Behinderung mit sich trägt, wie Johannes Rau beim Festakt predigt, ist ein pastoraler Allgemeinplatz, den auch die Dresdner Ausstellungsmacher ein bisschen suggerieren möchten. Im letzten Raum, Lichtung, dokumentieren sie Schlagworte der gegenwärtigen Ethikdiskurse. Rendite, Patente, Heilen, Forschen, PID, Wirtschaftsstandort, Sterbehilfe: den Streit um die endgültige Aufhebung menschlicher Grenzen, um die Abschaffung der Bruchlandung, um die Definition zumutbarer Existenz. Schöne Aussichten?

Nur leben ist schöner.

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