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Kultur: Der Trick mit dem Wochenendhaus

Alltägliche Katastrophen: Anna Gavalda weckt Verständnis für Schwiegerväter

Eine junge Frau wird von ihrem Mann verlassen. Sie ist, wie kann es anders sein, empört, wütend, verletzt. Zwei kleine Töchter gehören zur Familie, die eine ist noch nicht einmal aus den Windeln raus. Eine alltägliche Situation, die das Zeug zur Katastrophe hat, und doch, in ihrer Banalität, auch komische Züge trägt. Eben noch war Chloé eine dieser wohlsituierten Durchschnittsfranzösinnen, die sich in der Métro die Nägel feilen, während sie über die Essenseinladungen der nächsten Woche nachdenken. Und nun dies.

Chloé weint, hadert mit ihrem Schicksal und sucht Zuflucht. Ausgerechnet bei den Schwiegereltern. So richtig wohl gefühlt hat sie sich in der Familie ihres Mannes nie. Mit der übertüchtigen Suzanne als Schwiegermutter, einer Gesellschaftsdame mit Nestbautrieb, die dafür sorgt, dass die Familie nach ihrer Pfeife tanzt. Pierre, der Schwiegervater, ist auch nicht besser. Ein schweigsamer Patriarch, leistungsbesessen und gefühlskalt. Jahrelang hat Chloé daran gearbeitet, dass Adrien, ihr Mann, sich endlich gegen diesen Vater wehrt und lernt, selbstbewusst zu sein. Endlich scheint ihre Anstrengung Früchte zu tragen – und schon ist er weg, der aufgepäppelte Ehemann. Weg mit einer anderen.

Anna Gavalda, Jahrgang 1970, hat mit ihrem Erzählungsband „Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet“ sofort Erfolg gehabt. Dem Kleinverlag Le Dilettante ist sie auch mit ihrem zweiten Buch treu geblieben. Dieses Mal ist es ein Roman, ebenso leicht und elegant erzählt. Anna Gavalda bewältigt die längere Erzählstrecke mit Hilfe einer geschickt gewählten Grundidee: Sie spiegelt die Geschichte Chloés in der des Schwiegervaters.

Chloé ist zunächst verblüfft, als er sich bereit erklärt, sie und die Mädchen ins Wochenendhaus zu begleiten. Doch Pierre scheint gar nicht das Ungeheuer zu sein, als das er sich jahrelang ausgab. Immer mehr gibt er von sich preis. Und plötzlich wird Chloé, die Verlassene, zur aufmerksamen Zuhörerin einer tragischen Liebesgeschichte. Über fünf Jahre hatte er ein leidenschaftliches Verhältnis zu einer Frau. Aber er hatte nicht den Mut, seine Familie zu verlassen.

Anna Gavalda lässt ihren Figuren Raum, sie hält sich mit Interpretationen zurück. Es ist durchaus raffiniert, wie sie ihrer unglücklichen Heldin ein Bild davon liefert, dass sie vielleicht um mehr als einer Bettgeschichte willen verlassen worden ist. Von ihrem Mann würde sie sich die Feier der Liebe vermutlich nicht anhören, die sie ihrem Schwiegervater gestattet. Dennoch bleibt bei der Lektüre das schale Gefühl, einem Taschenspielertrick beigewohnt zu haben: Allzu heimlich haben Betrüger und Betrogene ihre Plätze getauscht. Wirklich ernst kann es hier niemandem gewesen sein.

Anna Gavalda: Ich habe sie geliebt. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger. Hanser Verlag, München 2003. 165 Seiten, 15,90 €.

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