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Kultur: Der unbewegliche Orient

Der aktuelle UN-Bericht zur arabischen Welt: Nicht die Kultur, sondern die Politik blockiert den Fortschritt

Von Caroline Fetscher

Der UN-Bericht zur Entwicklung der arabischen Welt, verfasst von Arabern für Araber, fordert radikale Reformen, um drohendem Chaos zu entkommen.

Alles ist da, im Morgenland: enormer Ölreichtum, ein großer Schatz kulturellen Erbes, Millionen junger Leute – aber kein Fortschritt. Warum? Wer vermutet, das läge an der arabischen Kultur, der irrt. Politik, ganz allein Politik ist die Antwort auf diese Frage. Seit 2002 veröffentlicht das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nation (UNDP) jährlich einen „Arab Human Development Report“ (AHDR), der den Stand der Dinge in den 22 Staaten der arabischen Welt untersucht. Von Marokko über Ägypten und Saudi-Arabien bis zum Jemen und Libanon erforschen die furchtlosen, ausschließlich arabischen Intellektuellen unter der Federführung der jordanischen Ökonomin Rima Khaled Hunaidi, Vize-Generalsekretärin der Vereinten Nationen, was sich in der so gelähmt wirkenden Übergangsphase zwischen „postkolonial“ und „prädemokratisch“ bewegt und regt. Der Anfang April erschienene Report für 2004 (www.undp.org), ursprünglich für Oktober 2004 geplant, ist jetzt in Amman vorgestellt worden. Debatten um die im AHDR enthaltene Kritik an den USA und an Israel verzögerten das Erscheinen. Diese Kritik – am Irakkrieg, an der Besetzung von Palästinensergebieten – gibt es nun zwar doch. Aber selbstkritisch und schonungslos ortet der Report die Defizite, die Blockierung der arabischen Welt bei dieser selbst.

Die meisten arabischen Systeme, heißt es in dem Report mit dem Schwerpunkt „good governance“ (gute Regierungsführung), „ähneln einem schwarzen Loch, das die soziale Umgebung in einen Raum verwandelt, in dem sich nichts bewegt und dem nichts entkommt“. Die Bilanz liest sich ernüchternd. „In arabischen Staaten beschneiden weiterhin undemokratische Regime Freiheiten und Grundrechte. Sie schwächen die Kraft ihrer Bürger sowie deren Fähigkeit zum Fortschritt, unterstützt von der Macht der Traditionen und dem Tribalismus, bisweilen unter dem Deckmantel der Religion.“

Auch wenn es in allen Ländern bis auf die Vereinigten Emirate und Saudi-Arabien Parlamente gibt, die Liste der Defizite im AHDR 2004 ist erdrückend: Scheinwahlen, Korruption, parteiische Justiz, clanorientiertes Handeln, Inhaftieren und so genanntes „Verschwindenlassen“ von Oppositionellen, willkürliches Ausrufen von „Notstand“, Diskriminierung von Frauen und, wie im Sudan, die Verfolgung von Minderheiten. In elf arabischen Staaten kann die Pressefreiheit offiziell durch Zensur beschnitten werden. Verfassungen arabischer Staaten seien „Freiheiten nur auf dem Papier“.

Zum westlichen Klischee-Bild von der arabischen Welt gehört der von Edward Said analysierte und angeprangerte „Orientalismus“: Basare verströmen orientalisches Flair, verschleierte Frauen mysteriöse Erotik und die Rufe des Muezzin sind das Echo einer ewigen, exotischen Ordnung. Zwar gibt es heute zahlreiche Feministinnen im Iran, wo mehr als die Hälfte aller Studierenden weiblich ist, und Hiphop-DJs in Casablanca, dessen Szene als die coolste in der arabischen Welt gilt. Doch spätestens seit dem 11. September 2001 gesellte sich im Westen zum klassischen Kolonialkitsch ein weiteres kulturelles Stereotyp: Araber eignen sich nicht für die Demokratie. Sie haben nie eine gehabt, werden nie eine haben. Ergo: Sie wollen gar keine.

In Deutschland etwa hört man vom Auswärtigen Amt bis zum Kreuzberger Kneipentisch, dass „wir“ geeigneter seien für den demokratischen Rechtsstaat – auch wenn wir einst als barbarischster Schurkenstaat der Geschichte halb Europa niedergemetzelt haben. Aber, heißt es dann, bei uns gab es eine lange Erfahrung mit Verwaltung und Bürokratie, so etwas fehle denen eben. Polemisch kann man diese Haltung „Neuer Orientalismus“ nennen. Und ironischerweise findet der seine Anhänger auch innerhalb des Orients, bei Fundamentalisten wie Autokraten der arabischen Staaten.

Bis vor kurzem besaßen Skeptiker wenig Beweise, dass die politische Sehnsucht nach Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat universell genug ist, auch Männer und Frauen in Staaten mit arabisch-islamischer Kultur zu beseelen. Erste klare Anzeichen boten die Wahlen in Irak und bei den Palästinensern. Im Libanon gab es einen friedlichen Volksaufstand, Kommunalwahlen für – immerhin – Saudi-Arabiens Männer, die Ankündigung einer Reform der Präsidentschaftswahlen in Ägypten, mehr offizielle Rechte für Frauen in Marokko. „Das Denken in der Region ist im Wandel begriffen“, sagt die 1953 in Kuwait geborene Rima Khalaf Hunaidi, die in den USA studierte. Die meisten der AHDR-Autoren haben Hochschulen im Westen besucht. Bei einer Umfrage des AHDR in Algerien, Jordanien, dem Libanon, Marokko und Palästina erklärten mehr als 90 Prozent der Interviewten, zu ihrem Begriff von Freiheit gehörten Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, das Recht auf freie Eheschließung, und der Kampf gegen Korruption.

„Wollte Allah einen Menschen erniedrigen“, schrieb der Imam Ali bin abi Taleb im 6. Jahrhundert, „so würde er ihm Wissen und Bildung vorenthalten“. Legt man Ali bin abi Talebs Maßstab an die arabischen Staaten an, hat sich dort wenig getan. Im zweiten AHDR stellten die Forscher fest, dass 65 Millionen Erwachsene in der Region weder lesen noch schreiben können, dass zehn Millionen Kinder überhaupt keine Schule besuchen. Frauen und Mädchen machen dabei den höchsten Anteil aus. An alledem hat sich wenig geändert.

Der AHDR 2004 schließt mit dem Szenario einer „Weggabelung zur Zukunft“. Die Wege heißen: Status quo – das bedeutet unheilvolle Konflikte, Spannungen, Chaos. Oder Weiterwurschteln mit halbherzigen Reformen. Die Alternative hieße: „Izdihar“ – das arabische Wort für einen Prozess des Aufblühens. Der neue AHDR jedenfalls sollte allseits dazu beitragen, den „Neuen Orientalismus“ zu dekonstruieren. Von innen wie von außen.

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