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Kultur: Der Unerbittliche

Sehen heißt gestalten: Otto Steinerts „Subjektive Fotografie“ in einer großartigen Ausstellung der Galerie Kicken Berlin

Ein Baumstamm, gerahmt von einem dekorativen Gitter, oben ein Streifen von Straßenpflaster, rechts – ja, was: ein schwarzer Fuß, der Ansatz des Beines, darüber nichts als ein schwingender Schatten.

Der „Ein-Fuß-Gänger“ von 1950 ist Otto Steinerts berühmteste Aufnahme, und wenn eine Veranschaulichung dessen gesucht wird, was mit dem Begriff der „subjektiven fotografie“ gemeint ist, so findet sich meist eine Abbildung dieser Arbeit. Otto Steinert (1915–1978) hat die „subjektive fotografie“ begründet und definiert. Er war bereits zuvor Mitgründer und Sprecher der Gruppe „fotoform“, und er hat als Lehrer, später Professor für Fotografie, zunächst in seiner Heimatstadt Saarbrücken, dann ab 1959 bis zu seinem Tod an der renommierten Folkwang-Schule in Essen eine Generation von Fotografen herangebildet. Und er hat für gut anderthalb Jahrzehnte bestimmt, was in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit als Fotografie Anerkennung fand, ja wie überhaupt „fotografisch“ zu sehen war. Zumindest die ersten beiden der von Steinert ausgerichteten Ausstellungen unter dem – in Bauhaus-Manier stets kleingeschriebenen – Titel „subjektive fotografie“ bilden Marksteine der Kulturgeschichte.

Steinert, von Beruf Arzt und ohne Ausbildung als Fotograf, hat sich niemals als Künstler verstanden. Er nannte sich „Lichtbildner“. In dem altmodischen Wort steckt die Verneigung vor Begriff und Begründern der „Photographie“, zugleich aber der Schlüssel zu Steinerts Arbeitsweise. Wie sehr er stets experimentiert und ein weites Spektrum bildnerischer Möglichkeiten erschlossen hat, zeigt jetzt die Galerie Kicken in einer Museumsauswahl zum Werk Steinerts. Es ist die Essenz seines Œuvres, die Rudolf Kicken und sein Kurator Wolfgang Schoppmann da versammelt haben.

Hervorgehoben durch Anzahl und Präsentation sind die Pariser Aufnahmen Steinerts aus den Jahren 1948 –52, die die hintere Schmalseite der Räumlichkeit in der Linienstraße dominieren: 20 Aufnahmen in vier Reihen, denen sechs weitere Motive an die Seite gestellt sind, darunter die Ikone des „Ein-Fuß-Gängers“, aber auch zwei verwandte Arbeiten, die noch nie öffentlich zu sehen waren.

Steinert war einer der ersten Künstler, die nach Paris reisen durften; nicht weil er in dem damals Frankreich assoziierten Saarland zu Hause war, sondern weil er als Aussteller im Musée des arts décoratifs bereits im Jahr 1949 bemerkenswerte Anerkennung gefunden hatte und fortan zum Pariser Salon geladen wurde. In Paris schuf Steinert jene Arbeiten, die seine Mittlerfunktion zwischen der Tradition des Bauhauses und den radikal subjektiven Leitgedanken der Nachkriegskunst, insbesondere der Malerei, zeigen.

Paris war längst zur „romantischen“ Kulisse verkitscht worden, als Steinert harte Linien in Architekturdetails entdeckte, das Lichtspiel zweier Eisenstühle in den Tuilerien oder den Kontrast von Hausschornsteinen und Eiffelturm. Gewiss, auch Clochards an der Seine kommen ins Bild oder ein Liebespaar; beide aber weit entfernt vom gängigen Klischee, wie es etwa Vincente Minnellis damaliger Musicalfilm „An American in Paris“ zementierte. Es zeigt sich die Spannweite dessen, was Steinert unter dem Begriff „gestalterische Fotografie“ verstand.

„Subjektiv“ sind die Wahl des Motivs und dessen „Isolierung aus der Natur“, wie Steinert es in seiner apodiktischen Ausdrucksweise 1955 nennt, ebenso wie die „Isolierung aus dem Zeitablauf durch die fotografische Belichtung“. Die Darstellung des Bewegungsablaufs ist es, die meist mit Steinert in Verbindung gebracht wird; in der jetzigen Ausstellung beispielhaft durch die im Wind sich wiegenden „Bäume vor meinem Fenster 2“ von 1956 vertreten wie auch vom „Wasserfall in Norwegen“ von 1963/65. Doch qualitativ gleichrangig stehen daneben die feingezeichneten, geradezu japanisch anmutenden Bilder von Hochspannungsmasten und -leitungen vor monochrom weißgrauem Himmel aus dem Jahr 1953, die unter Nahsicht eine erstaunliche Detailfülle zeigen. Man ahnt, wogegen sich die Bechers abzusetzen hatten, als sie in den sechziger Jahren ihre Industrieaufnahmen begannen, und zugleich, was sie von Steinerts Sichtweise fortführten.

Die technische Perfektion bildet den gemeinsamen Nenner aller Arbeiten. Steinert arbeitete mit Solarisationen, Negativkopien und Fotogrammen; in der Ausstellung am besten vertreten durch das Paar der „Luminogramme“ von 1952, die auf einer nächtlichen Langzeitbelichtung fahrender Autos basieren. In solchen Arbeiten kam Steinert der gestischen Malerei etwa eines Hans Hartung – auch er ein Deutscher in Frankreich – am nächsten.

Typisch ist die intensive Abstimmung von Schwarz, Grau und Weiß aller Abzüge, für die er, wie seine Schüler ehrfurchtsvoll berichten, im Einzelfall bis zu acht Stunden brauchte, um am Ende neun von zehn Versuchen wegzuwerfen. Gefürchtet waren seine Beurteilungen. Unerbittlich war er gegen seine Schüler, aber ebenso gegen sich selbst. Weniges hielt vor seinen Augen stand.

Von mehreren Aufnahmen in Steinerts vergleichsweise schmalem Œuvre gibt es nur Unikate. Deren Preis hat im Zuge der Fotografiekonjunktur angezogen; Kickens Offerten reichen von 12 000 bis 35 000 Euro. Das Paris-Konvolut (360 000 Euro) ist überhaupt der einzige verfügbare, vollständige Satz. In den USA, wo nach wie vor das Preisniveau bestimmt wird, findet Steinert allmählich die gebührende Anerkennung. Er selbst war einmal dort zu Besuch, 1962, in New York und beim Kodak-Museum in Rochester, wo zuvor die Ausstellung „subjektive fotografie 2“ auf ihrer Tournee Station gemacht hatte.

Noch eine Ausstellung zur „subjektiven fotografie“ ist übrigens auf weltweiter Wanderschaft, und zwar bereits seit 1989, auf die Reise geschickt vom Institut für Auslandsbeziehungen. Der „deutsche Beitrag 1948–1963“ – so ihr Untertitel – ist das Lebenswerk Otto Steinerts.

Kicken Berlin, Linienstraße 155, bis 29. März. Dienstag bis Samstag 14–18 Uhr.

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