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Kultur: Der unsichtbare Feind

Krieg und Frieden (3): Vietnam bleibt Amerikas Trauma und Michael Ciminos „The Deer Hunter“ der Film, der am stärksten ins Heute weist

Bagdad, Ende Juli 2003. Seit Wochen dauern in zermürbender Wüstenhitze die verlustreichen Kämpfe der US-Truppen gegen die 100 000 Mann starken Republikanischen Garden Saddam Husseins an; Zehntausende Zivilisten der Fünf-Millionenstadt sind bei den Kämpfen getötet oder verwundet worden; täglich sendet das Fernsehen weltweit, versorgt nicht nur durch CNN, Bilder vom immer erbitterter geführten Krieg um Saddams Machtzentrum und von den „body bags“ toter Soldaten, die in immer größerer Zahl die Heimat erreichen; Millionen versammeln sich zu Friedensdemonstrationen rund um den Globus – da beschließt US-Präsident Bush den „einstweiligen“ Rückzug: Unter schwerem Beschuss durch irakische Artillerie werden Tausende von US-Infanteristen von Spezialeinheiten ausgeflogen …

So wird es nicht kommen. Solche Bilder, die wir uns heute nur wie die vertausendfachte Realitätskopie von Ridley Scotts „Black Hawk Down“ vorstellen können, wird es nicht geben. Ganz einfach, weil es sie nicht geben darf. Nicht nur, weil die an den Rand einer Niederlage führende US-Kommandoaktion in Somalia 1993 sich nicht wiederholen darf, der Scott letztes Jahr ein patriotisches Denkmal setzte. Sondern weil den Amerikanern noch immer eine Schmach in den Knochen steckt, gegen die sich der doppelte Hubschrauberabsturz von Mogadischu wie eine Fußnote der Weltgeschichte ausnimmt: Vietnam.

Bei aller Unvergleichlichkeit im geopolitischen und zeithistorischen Detail: Vietnam bleibt der – im Zeitalter des globalisierten Terrorismus zwar immer mehr verdrängte – Referenzpunkt amerikanischen Handelns. Da mögen neuere Geschichtsschreiber diesen Krieg, bei dem drei Millionen Vietnamesen und knapp 60000 US-Soldaten starben, noch so sehr als notwendigen Einsatz zur Eindämmung des Kommunismus zu deuten suchen: Vietnam hat das Trauma der Besiegbarkeit begründet, das im 11. September nur furchtbar neue Nahrung fand. Bis heute treibt die US-Politik das Ende dieses mörderischen und selbstmörderischen, fast fünfzehnjährigen Abenteuers um. Ganz löschen lässt sich dieser neben dem Zweiten Weltkrieg wichtigste Krieg des vergangenen Jahrhunderts nicht aus dem amerikanischen Bewusstsein, also will er – mit allen Mitteln – anderweitig überwunden sein.

Wie war das damals? Saigon, 30. April 1975: Die nordvietnamesische Armee hat den Süden des Landes überrannt und steht kurz davor, dessen Hauptstadt einzunehmen. Amerikas Truppen, zeitweise über eine halbe Million Mann, haben sich nach einem labilen Waffenstillstand mit Nordvietnam zwar zurückgezogen, doch nun müssen binnen 24 Stunden Tausende von zivilen Amerikanern und treu ergebenen Südvietnamesen per Hubschrauber in Sicherheit gebracht werden, auf Flugzeugträger und Kriegsschiffe vor der Küste. Eine Massenflucht, die Welt ist live zugeschaltet. Als Letzter geht der US-Botschafter an Bord.

In diesen Wochen, da die Regierung Bush für einen Waffengang rüstet, der alle Kriege Amerikas seit Vietnam – Grenada, Panama, Ex-Jugoslawien, Afghanistan, ja, sogar den ersten Golfkrieg 1991 – als Petitessen erscheinen lässt, gibt es zwar keine Sowjetunion mehr, die den Irak alimentieren könnte. Es gibt auch keine Untergrundarmee namens Vietcong, die ein US-Marionettenregime mitsamt seinen hochgerüsteten Alliierten in die Knie zu zwingen droht. Aber erscheinen die Vietcong, diese heimtückischen Gegner auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad, nicht wie die Vorläufer der Terroristen – jener unsichtbaren Feinde, die nun in der Person Saddam Husseins stellvertretend sichtbar gemacht und exekutiert werden sollen? Auch in der Bush-Ideologie der Guten, die das Böse bekämpfen, steckt nur eine aktualisierte Version jenes Impulses, der sich gegen die kommunistische Guerilla richtete, nur dass es diesmal im weitesten Sinne gegen den Islamismus geht. Und wieder einmal ist eine massive Luftüberlegenheit in Gefahr, am Boden durch ein unausrechenbares Gemetzel zerrieben zu werden.

Nein, Amerika hat Vietnam nicht wirklich bewältigt – politisch ebenso wenig wie in seiner populärsten ästhetischen Bewältigungsindustrie, dem Kino. Die Vietnamfilme sind Legion, von den frühen Grotesken im Stile von „M.A.S.H.“ bis zum Veteranengenre der achtziger Jahre, gipfelnd in den „Rambo“-Rächerfantasien, in denen das Amerika des Ronald Reagan den vertrauten Western-Geist eines John Wayne wiederfand. Auch die wenigen großen Vietnamfilme – von Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“ über Oliver Stones „Platoon“ bis zu Stanley Kubricks „Full Metal Jacket“ – sind überwiegend der archetypischen Faszination des Kriegsgeschehens selbst erlegen. Wenn es denn einen (Anti-)Kriegsfilm gibt, den man den Zehntausenden in die Golfregion beorderten Berufssoldaten vor dem Waffengang zur Pflichtbesichtigung erwählen wollte, so wäre dies der alle Vietnamfilme überstrahlende „The Deer Hunter“ von Michael Cimino. Nur wäre dann etwas fraglicher, ob es noch einen Waffengang gäbe.

Denn an seinen drei Helden Michael, Nick und Steven, gültig verkörpert von Robert DeNiro, Christopher Walken und John Savage, zeigt Cimino die seelischen, geistigen und körperlichen Versehrungen, die der Krieg dauerhaft im Menschen anrichtet. Nicht, dass dieser Film auf Schlachtszenen ganz verzichtete, viel mehr aber interessiert ihn, wie der Krieg auch die Überlebenden mordet, jeden auf seine Weise. Der Tod selbst bleibt ja, solange man nicht selbst von ihm ereilt wird, so physisch wie abstrakt. Die Abtötung aber, die der Krieg all seinen Teilnehmern antut – auch den soldatischen Mittätern –, ist so psychisch wie konkret.

Grandios und klar bettet der Dreistundenfilm „The Deer Hunter“ das Krieggeschehen in seine kurze Mitte, zwischen zwei breit ausgemalte Zeiten des Friedens, das brüchige Danach ein Zerrspiegel des freskenhaften Davor. Am Anfang steht die episch ausgemalte Hochzeit Stevens, am Ende das Begräbnis Nicks; erst ist Steven der glückliche Bräutigam, nachher der beinamputierte Kriegsinvalide; die Ruhe Nicks bei der letzten Hirschjagd im heimischen Pennsylvania findet ihren finsteren Widerschein, als er sich, drogen- und todessüchtig, beim Russisch Roulette in den Spielhöllen Saigons auf die letzte Probe stellt; und Michaels Selbstvertrauen verbraucht sich in dem ungeheuren seelischen Aufwand, mit dem er – ein zweites Mal in Vietnam – den Freund Nick retten will und doch nicht retten kann.

Nichts bleibt, im Krieg. Und nichts wird wieder, nicht wirklich. Das ist Michael Ciminos nüchterner Befund. Er wagt es sogar, die späte zweite Klimax des Films in jenem Herz der Finsternis des amerikanischen Bewusstseins zu verankern, das mit dem Saigon kurz vor der Kapitulation für immer verbunden ist. Hier hat sich der an der Russisch-Roulette-Folter in Gefangenschaft irre gewordene Nick aufgegeben. Und hier begibt sich Robert DeNiros Michael in Lebensgefahr, um Nick als selbstmörderisch spiegelbildlicher Mitspieler an gemeinsame Gefangenschaft und Selbstbefreiung zu erinnern.

Mancher deutete dies als eine äußerst verzerrte Western-Situation, als High Noon um Mitternacht in Saigon: Nur stehen sich hier nicht ein Guter und ein Böser gegenüber, sondern zwei Freunde. Gut und Böse sind keine Kategorien im Krieg, sondern nur Leben und Sterben. Saigon ist in „The Deer Hunter“ der prototypische Ort, den der menschengemachte Krieg unbewohnbar gemacht hat – ein Ort, wie Bagdad einer werden könnte.

„God Bless America“: Das singen Steven und Michael, nachdem Nick zu Hause in Clairton begraben ist, wo sie alle drei friedenslang, lebenslang Freunde waren. Ein zaghafter Trost steckt in diesem Singen und ein Sarkasmus zugleich: Denn wie kann Gott ein Land segnen, das sich und andere in einem solchen Krieg zerschunden hat? Dieser Tage kommen einem dabei die Worte des Papstes in den Sinn, der unzweideutig vor dem irakischen Abenteuer gewarnt hat, das Bush und die Seinen vorbereiten. Der katholische Stellvertreter Gottes auf Erden hat damit jene Ideologie durchkreuzt, wonach auch mit diesem angekündigten Krieg wieder einmal das Gute über das Böse siegen soll. So, wie dieser Planet zwei Pole hat, so ist und bleibt er zumindest bipolar im Kampf zwischen Kräften. Es geht um Macht – und einiges spricht dafür, dass Amerika nach dem Sieg über Saddam Hussein, der neben vielem anderen auch die nie überwundene Schmach von Vietnam tilgen soll, nie wieder so mächtig sein wird wie heute.

Krieg und Frieden: Theater (8.1.), Literatur (11.1.). Demnächst folgt: Der Witz

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