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Kultur: Der verspielte Zauber

Wer Robert Wilson engagiert, glaubt an Wunder. Dafür ist der Welttheater-Meister da: zum Verzaubern und Verrücken und Verzücken.

Wer Robert Wilson engagiert, glaubt an Wunder. Dafür ist der Welttheater-Meister da: zum Verzaubern und Verrücken und Verzücken. Bei Wilson denkt man an den amerikanischen Weihnachtsmann - wie er es bloß immer schafft, all die Geschenke für all die Kinder auf der Welt pünktlich zu verpacken. Und wirklich ist wieder einmal ein Wunder geschehen, am Deutschen Theater Berlin. In nur wenigen Wochen Probenzeit, der Spielbetrieb war einen Monat lahmgelegt, und mit irrsinnigem Aufwand - 120 Mitwirkende vor und hinter der Bühne, Sondermittel aus dem Hauptstadtkulturfonds und von Sponsoren - hat sich das Haus auf die Produktion des "Doktor Caligari" geworfen, die wie ein Anachronismus wirkt. Im Berliner Spar-Theater sollte der opernhaft-üppige "Doktor Caligari" in seiner lichten Heiterkeit eine therapeutische Wirkung entfalten.

Es ist ja das Mindeste, was man von Bob Wilson erwartet und erhofft - dass er Wunder schafft. Dass es zu einer heftigen chemischen Reaktion kommt, wenn altbekannte Ingredienzien aufeinander treffen. Sehr schön ist die Verwandlung bei einigen Schauspielern zu sehen. Christian Grashof, zu DDR-Zeiten einst ein hochsensibler, disziplinierter Spieler, der in der Langhoff-Ära mehr und mehr verblasste, er leuchtet plötzlich wieder. Grashof als Caligari: In seiner grellen Maske, in seinen riesigen Augen wohnen Brutalität und Verzweiflung. Der Mörder und Tyrann - ein einsamer Künstler. Man kann Mitleid haben mit dem Monster, wie Caligari schmerzhaft-elegant seinen Körper verdreht, zurück in eine Zeit, als das Verwünschen noch geholfen hat. Und der junge Max von Pufendorf als Caligaris Gegenspieler Franzis: eine genialisch schlackernde Wilson-Figurine mit knallrotem Haar, unwiderstehlich in Ausdruck, Timing, Präzision - perfekt!

"Es war einmal ..." Wilson erzählt ein Märchen. Als im Jahre 1920 Robert Wienes Stummfilm "Das Cabinet des Dr. Caligari" im Berliner Marmorhaus-Kino uraufgeführt wurde, war ein Mythos geboren. Die deutsche Filmindustrie gewann Weltgeltung. Der Horror des Krieges, das Chaos der entstehenden Weimarer Republik, die Manipulationsfähigkeit der Massen und die Dämonie des wahnsinnigen Irrenarztes, der bereits Hitler inkarnierte - all das war eingeschlossen in Caligaris expressionstischem und zugleich politischem Cabinet..

Doch Stefan Kurt, erprobter Wilson-Spieler aus Hamburg, die Stimme aus dem Off, raunt ironisch: Es war einmal! Der US-Schriftsteller Walter Abish schrieb einmal einen (Berlin-)Roman mit dem Titel "Wie deutsch ist es?" Nun, auf Wilsons "Doktor Caligari" bezogen, muss man sagen: Es ist nicht sehr deutsch, wenn deutsch so viel bedeutet wie tiefsinnig, politisierend, rechthaberisch. Zugleich pflegt Wilson ja die deutsche Tradition des Expressiven, des Gesamtkunstwerks seit eh und je wie keiner sonst.

Introduktion (und nachher auch das Schlussbild): Die Akteure schieben sich, beseelten Scheerenschnitten gleich, in Position. Ein antikisiertes Kircheninneres mit zerbrochenen Säulen und der Verwesungsatmosphäre eines Piranesi-Kerkers ist auf die Rückwand projiziert. Oben, in einer Öffnung, durch die das Dunkelblau des Weltalls einzuströmen scheint, steht säulenheilig Caligari, ein Dämon. Unten, im Tableau eines hellen Alptraums, döst ein Eisbär an der Leine. Ein grün gekleideter Polizist (Michael Gerber) schneidet Buster-Keaton-Fratzen, sein Kollege im blauen Anzug (Ursula Staack) erinnert an den Cop, vor dem Charlie Chaplin immer davonlief. Reverenzen, Zitate, enigmatische Körperbilder ruckeln, gleiten, verwischen sich in einem klassizistischen Kosmos. Das ist das Irritierende an Wilsons Caligari-Fantasie: Er bewegt sich nie sehr weit weg vom Original, und doch rollt ein ganz eigenes Werk über die Bühne, das man als choreografische Oper, ohne Gesang, bezeichnen könnte.

Auch der Ausdruckstanz war, wie der Stummfilm, eine genuin deutsche Disziplin, auch hier hat Wilson Wurzeln. "Doktor Caligari", das ist hochartifizielles deutsches Theater am Deutschen Theater. Reminiszenzen an schwarz-weiße Filmmomente, kräftig koloriert. Heftigste Gefühlsausbrüche, minimalistisch karikiert. DT-Chefdramaturg Oliver Reese entwickelte ein Szenario von rund dreißig Bildern, in denen die Schauspieler stumm bleiben. Ein Aufschrei, ein Flüstern hier und da, doch das unterstreicht nur das sprachlose Entsetzen, das diese Zombie-Naturen in den ausgepolsterten Kostümen von Jacques Reynaud umtreibt - und ihre fatale Neugier jenseits der Worte. Sie trippeln, sie hüpfen, sie posieren, und wie dünn das unsichtbare Seil ist, auf dem sie über das Abgründige tänzeln, sah man bei Regine Zimmermann. Sie stürzte in der Premiere an der Rampe ab, lächelte ein kindhaft-schelmisches Wilson-Lächeln und musste nachher ins Krankenhaus.

Wunder haben ihren Preis. Hier ist es ein musikalischer: Michael Galassos Caligari-Komposition gibt sich neckisch-niedlich, illustrativ wie Ballettmusik. Anfangs mischt sich die sechsköpfige Combo aus dem Orchestergraben mit bedrohlich irrlichternden Klangcollagen. Doch das Atemlose, unnennbar Gefährliche verliert sich schnell. Die Musik erzählt nur, was auf der Bühne ohnehin zu sehen ist. Michael Galasso übrigens hat großen Anteil an Michael Thalheimers "Emilia Galotti"-Inszenierung, die am Deutschen Theater längst Kultstatus genießt. Da haben sie Galassos ausladende Tänze aus dem Film "In the Mood for Love" auf Lessings Trauerspiel gelegt. Da prallen Welten aufeinander, und es entsteht etwas überraschend Neues, Fremdes. "Doktor Caligaris" Hausmusik hingegen transzendiert nichts. Das gilt auch für die Zwischentexte, die Stefan Kurt einflüstert. Sie klingen nach Notlösung, und vor der Pause fehlt jede straffende Dramaturgie.

Stark ist diese Uraufführung nur, wenn Wilson sich von der Filmlegende befreit und entfernt. Grashof allein, Gesten des Großen Diktators probierend: Sekunden kurz dröhnt eine Heil!-kreischende Menge auf. Cesare, Caligaris somnambules Mordwerkzeug, hat Wilson dupliziert: Bernd Stempel und Peter Ehrlich als Sadomaso-Glatzköpfe in hohen Stiefeln. Auch Jane, das geile Opfer, schleicht und zwinkert dem Unheil in zwiefacher Gestalt hinterher (Regine Zimmermann, Ellen Schlootz). Faschismus, ein erotischer Abgrund. Das mag eine Platitude sein. In Wilsons Szenerie wirkt es ungemein, weil ungezwungen.

Ensemble und Technik des Deutschen Theaters leisten Gewaltiges. Man muss sich erinnern, in welchem Tiefschlaf das Haus noch vor einer Spielzeit lag. Wilson aber hat seinen Meister gefunden - sich selbst. Das Caligari-Thema des Somnambulismus wirkt wie ein weißer Schimmel, die expressive Ästhetik des Stummfilms liegt ihm zunah. "Du musst Caligari werden!" Mit ungewöhnlich aggressiven Plakaten hat die Industrie seinerzeit für den Caligari-Film in Berlin geworben. Nun, Wilson ist Caligari geworden, ein Magier, dem das Publikum zuströmt - um dessen Entblößung zu erleben! Denn plötzlich scheint es so, als wolle Wilson mit dem "Doktor Caligari" seine Zaubertricks verraten. Wie der Doktor da am Ende selig-selbstquälerisch Pirouetten um seinen großen Zauberstab dreht, wie er sich tragisch decouvriert, das zeigt: Schaut her, so habe ich es gemacht!

Doch gibt es noch viele Orte auf der Welt, die ein solches Schauspiel erleben wollen. Und es wird eine Weile dauern, bis Bob Wilson wieder nach Berlin zurückkehrt, an den Tatort des "Doktor Caligari". Bis dahin werden sich die magischen Türen am Schrein des somnambulen Mediums Cesare noch unzählige Male so lautlos öffnen, dass man das Kreischen der Scharniere zu hören vermeint.. Wir sehen den Zauber, doch auch die Mechanik der Magie.

Rüdiger Schaper

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