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Kultur: Der verträumte Mann

Soldaten sind „Gralsucher“: ein Theater-Projekt in Peenemünde

Peenemünde ist ein geschichtsträchtiger Ort: Fischerdorf im Norden der Insel Usedom, Heeresversuchsanstalt zur Entwicklung der V2-Rakete, NVA-Marine-Stützpunkt, heute Museum und derzeit Schauplatz der viel gereisten Wehrmachtsausstellung. Kein schlechter Ort für Theaterexperimente: Technikbegeisterung und Wissenschaftsethik sind nahezu unerschöpfliche Themen, und die Turbinenhalle des ehemaligen Kraftwerks fordert zur Inbesitznahme durch künstlerische Auseinandersetzungen geradezu auf.

Jetzt ist, nach einer Reihe anderer Projekte in den Vorjahren, der Verein Theater Provinz Kosmos mit seiner Produktion „Der Gralsucher“ dieser Aufforderung gefolgt. Regie bei der frei nach Wolframs von Eschenbach „Parzival“ entstandenen Parabel führt Stefan Nolte. Nach längeren Recherchen entstand die Geschichte des abgewickelten NVA-Soldaten MiG Mittendurch, der sich angesichts seines Bedeutungsverlustes vom Wächter der sozialistischen Republik zum Arbeitslosen in wüste Parzival-Fantasien stürzt, dabei den Boden unter den Füßen verliert und in Gestalt einer Gerichtsvollzieherin schließlich wieder der Realität begegnet.

Ein kolportagehafter Plot? Eher eine Geschichte über die Vergangenheit in der Gegenwart, über Tarnung, Täuschung und Ent-Täuschung. Dabei gelingt es Nolte und seinem Team, den Ort selbst einzubeziehen, nicht zuletzt über lokale Akteure: Vier Schauspieler (allen voran Alexander Schröder in der Titelrolle) bringt der Verein selbst mit, für eine himmlische Atmosphäre in den Traumsequenzen sorgt der Mädchenchor des Logos-Gymnasiums aus dem nahe gelegenen polnischen Swinoujscie, zur Jagd blasen Mitglieder der „Jagdhornbläser Insel Usedom“. Dem erträumten „Morgenrot entgegen“ geht es mit einer verswingten Variante des gleichnamigen Arbeiterliedes, gespielt von den Streckelberger Musikanten, einem Ensemble, das aus dem Musikkorps der Volksmarine hervorgegangen ist. Und die Gerichtsvollzieherin Stephanie Steinmetz aus Wolgast spielt sich wirklichkeitsgetreu höchstselbst. Ein sonderbares Patchwork, das gleichwohl nie dilettantisch oder gar folkloristisch wirkt.

Dazu trägt auch ein Text bei, der Gegenwartssprache, Anleihen bei Eschenbach und NS-Erinnerungsliteratur raffiniert kombiniert. Und eine Geschichte, die den Geist der Spielstätte reflektiert: In Peenemünde sind die vergangenen 50 Jahre in ihren Brüchen und Wendungen noch sichtbar, zu den Ruinen aus der Nazizeit gesellten sich nach der Wende leerstehende (teils tatsächlich zwangsgeräumte) Wohnblocks und Unterkünfte aus der Zeit der Volksmarine. Das Historisch-Technische Informationszentrum auf dem Gelände der ehemaligen Heeresversuchsanstalt zieht sowohl Besucher an, die sich über die Verbrechen der Nazis informieren wollen, wie auch „Gralsucher“, die hier den deutschen Geburtsort der Raumfahrt wähnen und andächtige Schweigeminuten vor der Nachbildung einer V2 einlegen.

Vorausgegangen war der Uraufführung vom vergangenen Wochenende eine in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung entstandene Gesprächsreihe: Die Diskussionen galten dem Mythos Rakete, der europäischen Sicherheitspolitik, aber auch dem skurilen Zusammenhang zwischen Heeresgerät und Rockmusik. Ein lohnenswertes Unternehmen: Das Zentrum unter seinem Direktor Dirk Zache ist gut beraten, die Auseinandersetzung um diesen zwiespältigen Ort nicht nur mit den eigenen wissenschaftlichen Mitteln zu führen, sondern sich Künstler einzuladen, die auf ihre Weise die Geschichte zum Tanzen bringen.

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