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Kultur: Der vierte Stand

Hauptmanns „Weber“ und das Prekariat von heute

Wer die Augen verschließt, hat auch keine Worte. Nur Abkürzungen: Prolls, Atzen, Assis. Oder offiziöse Begriffe, die Grenzen ziehen und befestigen: Unterschicht (Kurt Beck). Prekariat (Friedrich-Ebert-Stiftung). Oder Menschen mit Migrationshintergrund. Menschen, immerhin.

Es ist, als hätten Forscher in den Urgründen unserer Städte und der sich leerenden Flächenstaaten plötzlich eine neue Spezies entdeckt. Das Erschrecken ist groß, im Augenblick, wie bei der Vogelgrippe oder dem BSE-Skandal (wenn sich noch jemand daran erinnert). Offenbar fürchtet man so etwas wie eine gesellschaftliche Ansteckungsgefahr, die von den Armen, Abgehängten, Arbeits- und Perspektivlosen ausgeht. Von bald zehn Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung – im Osten soll sogar schon ein Viertel der Menschen alle Hoffnung auf die Demokratie und den Sozialstaat aufgegeben haben.

Man hat diese angeblich neue, keineswegs homogene Art bezeichnenderweise als Passivposten entdeckt. Über ihr Freizeitverhalten, denn an freier, leerer Zeit herrscht da kein Mangel. Paul Nolte und Harald Schmidt dürfen sich um das Copyright für den Begriff Unterschichtenfernsehen streiten. Was zuerst da war, lässt sich nicht klären – die Schicht oder die einschlägigen Reality-Shows, die gespielten Gerichtstage, wo die Kläger auch immer die Beklagten sind und ein gewaltiges Empörungspotenzial verpufft.

Auch wenn sich die Klassenfrage heute nur noch den Kunden einer Stuttgarter Automarke stellt, fühlt man sich doch ins 19. Jahrhundert zurückversetzt. Wie groß war das Entsetzen, als Gerhart Hauptmann 1892 das Drama der „Weber“ publizierte. Es geht hier nicht um den berühmten Zensurprozess und die Debatte im Preußischen Abgeordnetenhaus um ein Theaterstück, das den Blick auf unerträgliches soziales Elend lenkte, mitten in der kapitalstrotzenden Gründerzeit. Es geht um die Wahrnehmung. Der wilhelminischen Staatsraison war das Thema lästig. Und dass Hauptmanns Stück ein halbes Jahrhundert rückdatiert war, auf die Zeit des schlesischen Weberaufstands, machte den Fall nur brisanter. In der Hauptstadt roch man sofort die brennenden Barrikaden, die Revolutionsgefahr. Ende des 19. Jahrhunderts war die Lage der schlesischen Weber wieder, und immer noch, horribile dictu, furchtbar prekär.

Anders als heute konnte der Dramatiker der Armut eine Heimat geben, Schlesien. Und einen Beruf, der, wenn überhaupt, Hungerlohn abwarf. Er ließ, auch das ein Schock, den Notleidenden ihre eigene Sprache. Hauptmann schrieb die erste Fassung der „Weber“ in schlesischer Mundart. Heute wird in Asien und Lateinamerika gewebt, Stoffe für die Welt, und die Rapper von Aggro Berlin und Sektenmuzik brauchen keinen Großschriftsteller, der ihnen eine Sprache gibt.

Jetzt schwärmen wieder Soziologen und Schriftkundige aus, um die da „ganz unten“ (Günter Wallraff) einzufangen. Gerhart Hauptmann begab sich seinerzeit am Fuß des Riesengebirges auf Recherchereise. Die Weberdörfer waren, wir kennen das, Objekte von Untersuchungskommissionen und halbherziger Maßnahmen. Der wilhelminische Theaterbesucher in Berlin und Breslau erkannte in dem „Weber“-Stück sofort „die düstere Hinterhauslandschaft in den Großstädten“, wie es Hans Schwab-Felisch formulierte: „Die soziale Frage war zum Kardinalproblem der Epoche geworden.“ Kein Zufall, dass das Dresdner Staatsschauspiel 2004 den Namen Hauptmanns benutzte, um der neuen Verelendung eine Sprache zu geben. Was davon blieb? Nur die Erregung über einen vermeintlichen Mordaufruf gegen eine TV-Moderatorin.

Die Verfallszeit der momentanen Sozialdebatte ist schwer auszurechnen. Debatten sind endlich und lösen einander ab. Auch Hauptmann war schnell auf einem anderen Dampfer. 1894 reist er in die USA und sagte dort: „So tief ich auch z. B. durch die Leiden eines Webers erregt war, als ich den Plan zu meinem Stück fasste: wie ich einmal an die Arbeit gegangen war, sah ich nur noch den wunderbaren Stoff.“

Wie der Dichter, so haben Politik und Öffentlichkeit vorübergehende Interessen. Das ist das wahrhaft Prekäre. Der vierte Stand: Der schnöde Begriff bezeichnet nicht nur die Rechtlosen vor der Französischen Revolution 1789, sondern auch die Medien in unserer Zeit.

Rüdiger Schaper

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