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Kultur: Der Vorleser

Literaturfest: Peter Stein sucht Trost bei Tschechow

Ein Biedermeier-Tischchen, ein Stuhl mit roter Samtlehne, ansonsten ist die Bühne leer. Auftritt Peter Stein im schwarzen Anzug. Stürmt mit Imperatorschritten zum Tisch, bleibt abrupt stehen, schaut ins Publikum, vage jemanden suchend, setzt sich, pflanzt das Büchlein auf einen Ständer, Beine breit, Oberkörper nach vorn – auch Lesen erfordert den ganzen Mann.

Peter Stein trägt „Eine langweilige Geschichte“ von Anton Tschechow vor. Haben wir in naher Zukunft eine große Tschechow-Inszenierung zu erwarten? Denn wenn Stein bisher öffentlich Klassiker gelesen hat, folgte noch jedes Mal das Theatergroßprojekt. Erst Goethes „Faust“, dann Schillers „Wallenstein“ (siehe Meldung, S.29). Doch dieses Mal lautet die Motivation wohl: melancholische Identifikation. Tschechows Geschichte handelt von einem verbitterten 62-jährigen Mann, der sich selbst für ekelhaft und mittelmäßig hält – gerade hat Peter Stein in einem Interview gestanden, dass sich das sehr mit seinem eigenen Selbstbild deckt. Tschechows Medizinprofessor ist aber nicht nur ein Misanthrop, sondern verachtet auch das Theater – schenkt einem Vorleser, der im Hauptberuf Regisseur ist, also wunderbare Pointenvorlagen: Ein bitter betontes Sätzchen über eitle Schauspieler, und der gut gefüllte Saal im Haus der Berliner Festspiele tobt vor Lachen.

Peter Stein ist ein mitreißender Vorleser, streng und nachlässig zugleich; dass er quasi von sich spricht, während er den Alltag des Professors zwischen faulen Studenten und einer affektierten Gattin beschreibt, steigert das Vergnügen. Stein beginnt mit einem lässigen Anflug von Wienerisch – Hommage an Brandauer? –, bettet den Text dann aber in ein dezentes Berlinerisch und vollführt wahre Betonungskunststückchen. Er jammert im herzerweichenden Selbstmitleid, kiekst hysterisch auf, schmiert ganze Absätze nölig runter und artikuliert auch mal mit der Akkuratheit eines ungeduldigen Lehrers. Den größten Nachdruck legt Stein aber in den Vorgang des Seitenumschlagens. Er blättert nicht, sondern fetzt oder knallt das bemitleidenswert dünne Paper von rechts nach links. Da lugt unter dem Ekel eines alten Mannes der herrische Übermut eines Halbstarken hervor. Lust auf Leben. Wie tröstlich. Andreas Schäfer

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