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Kultur: Der weiche Kern des Alls

Die Flaming Lips aus Texas übertreffen sich mit ihrem elften Album selbst

Zu den gängigen Mythen der Popmusik gehört der böse Plattenkonzern, der eine Indie-Band einkauft, ein paar Hits aus ihr rauspresst und beim ersten Anzeichen von Misserfolg wieder fallen lässt. Zum Glück gibt es Ausnahmen von dieser vielfach bewahrheiteten (Erfolgs-)Story. Die Flaming Lips waren berüchtigte Krawallmacher mit eher bescheidenen Aussichten, einmal viel Geld zu verdienen, als sie 1992 von Warner Records unter Vertrag genommen wurden. Seitdem darf die 1983 gegründete Spinnercombo aus Oklahoma City unbehelligt an ihrer Vision von kosmischer Americana herumfeilen. Das führte zu kleineren Charterfolgen, die der Band einen Gastauftritt in der TV-Serie „Beverly Hills 90210“ bescherten. Aber in der Regel nutzen die Flaming Lips ihre Narrenfreiheit für Platten, deren kaleidoskopischer Zugriff alle Konventionen sprengt. Legendär das Konzeptalbum „Zaireeka“ von 1997: vier CDs mit verschiedenen Tonspuren derselben Songs, die erst simultan abgespielt den vollständigen Mix hörbar machten – ein sagenhafter Verkaufsflop.

„At War With The Mystics“ ist das elfte Album der Texaner, die seit zehn Jahren zu dritt mit Wayne Coyne als Sänger, Michael Ivins am Bass und Multiinstrumentalist Stephen Drozd agieren. Wer glaubt, die notorischen Weirdos würden womöglich „kommerzieller“ klingen als zu Beginn ihrer Karriere, wird sein Wunder erleben. Wie für die Vorgänger hat sich Flaming-Lips-Mastermind Wayne Coyne einen Überbau erdacht, der sich einem LSD-Trip verdanken könnte. Hinter kryptischen Metaphern von intergalaktischen Zauberern und Songtexten über Selbstmordattentäter, hinter dem titelgebenden Szenario eines apokalyptischen Kampfes zwischen Gut und dem – von der Bush-Regierung verkörperten – Bösen verbirgt sich mehr als hippieske Weltflucht. Wayne Coyne ist ein großer Pop-Metaphysiker und ein Menschenfreund, zu dessen Songwriter-Träumen es gehört, der Beschäftigung mit dem Tod den Schrecken zu nehmen, ohne ihn aus dem alltäglichen Bewusstsein zu verbannen.

Trotzdem wären Coynes Worte kaum mehr als esoterischer Nonsens ohne die Musik. „At War With The Mystics“ ist ein schillerndes Mosaik aus zwölf atemberaubenden Songs. Die wilden Experimente der frühen Flaming Lips, die saccharinsüßen Beach-Boys- Melodien mit monströsem Gitarrenlärm konterkarierten, das Geräusch eines zertrümmerten Pianos in ein Stück einbauten oder ihr Studio für einen Klangeffekt unter Wasser setzten, sind geordneteren Versuchsanordnungen gewichen.

Der Opener „The Yeah Yeah Yeah Song“ schichtet um den hypnotischen Mickymaus-Chorus eine luzide Powerpop-Hymne mit Brachialgitarre. „Free Radicals“ klingt wie die Zeitlupenversion eines frühen Funk-Songs von Prince. „The W.A.N.D.“ ist ein opulenter Nachhall der sinfonischen Arrangements ihres Meisterwerks „The Soft Bulletin“ aus dem Jahr 1999. Die sieben Minuten von „The Sound Of Failure“, in denen sich aus einer herbstlichen Lautschraffur ein lässiger Shuffle-Rhythmus schält, um in einer unendlich zarten Querflöten-Meditation zu münden, gehören zum schönsten, was Popmusik zu bieten hat. Nie zuvor war die Affinität der Flaming Lips zum Progressive Rock so deutlich zu hören wie jetzt. Genretypisch betitelte Stücke wie „My Cosmic Autumn Rebellion“, „Vein Of Stars“ oder „Pompeji Am Götterdämmerung“ verweisen mit ätherischem Mellotrongewaber und majestätischen Gitarren- und Orgelsoli auf die Progrock-Giganten der Siebziger. Die Lips werfen dabei den Virtuositätsballast über Bord, mit denen Dinosaurierbands wie Yes, Emerson, Lake & Palmer oder King Crimson ihre bis zu halbstündigen Elaborate überfrachteten. Sie suchen nach dem weichen Kern dieser Musik. Und Wayne Coyne singt am Ende von „It Overtakes Me“ tatsächlich so verletzlich und klar wie vor über 30 Jahren Jon Anderson bei dem Yes-Song „Close To The Edge“. Zum Heulen schön.

Das Album ist nur deshalb kein Meilenstein der Popgeschichte, weil die beiden Vorgänger „The Soft Bulletin“ und „Yoshimi Battles The Pink Robots“ bereits ähnlich umwerfend waren. Dennoch bleiben die Flaming Lips die Könige der amerikanischen Psychedelia, an die weder alte Wegbegleiter wie Mercury Rev noch neue Herausforderer wie My Morning Jacket heranreichen. Ihr letztes Berliner Konzert beim City-Slang-Labelabend im Jahr 2000 war ein Desaster. Die Band spielte gegen drei Uhr morgens vor vielleicht 50 verbliebenen Fans ein mürrisches Set. So muss mindestens bis Hamburg reisen, wer Wayne Coyne erleben will. Als irren Zeremonienmeister einer Inszenierung, die nur dem Schein nach ein Rockkonzert ist. Vor allem ist das Multimedia-Happening eine soziale Skulptur.

The Flaming Lips: At War With The Mystics (Warner), live zu erleben am 4. Mai in Hamburg.

Jörg W, er

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