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Kultur: Der Weltmusiktheatermacher

Heiner Goebbels’ „Landschaft mit entfernten Verwandten“ gastiert im Berliner Festspielhaus

Derwische, die sich zu schlangenbeschwörerischen Flötentönen verzückt im Kreise drehen, krinolinenbewehrte Hofdamen beim zierlichen Tafelmusikzeremoniell, eine finstere Brecher-Brüder-Combo, die finsteren Jazz ausstößt, drei fliegende Riesenmarionetten, der brutalen Misshandlung durch ihre zwergengleichen Spieler preisgegeben, eine Phalanx der Blechtrommler, wie entfesselt die Rampe stürmend, Texte in Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Hindi, von Giordano Bruno bis Gertrude Stein, von Velazquez bis Michel Foucault, Eisenglocken aus dem Schnürboden, die bösen Lärm veranstalten, dazwischen viel Feuer und noch mehr güldener Lichterschein im irgendwie orientalisch angehauchten Ambiente und zum guten Schluss sogar ein authentisches Suffi-Ritual in smartem Pastellgrün – Heiner Goebbels will alles. Und lässt nichts aus.

Der studierte Soziologe, einstige Gründer des Frankfurter „Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters“ und alternative Avantgardist will nicht mehr und nicht weniger als Weltmusiktheater machen, im doppelten oder gar dreifachen Sinn des Wortes. Er wechselt Perspektiven und Stilmittel, Länder, Menschen und Tonlagen wie im Zeitraffer, sucht panisch nach dem Ganzen in seiner Zersplitterung, nach dem Politischen im Banalen, nach Brecht im Strudel der Postmoderne und vor allem: nach dem alles entscheidenden, das (eigene) schöpferische Seelenheil sichernden Hintertürchen aus dem Elfenbeinturm der so genannten Neuen Musik. „Landschaft mit entfernten Verwandten“, Goebbels’ erste richtige Oper (nach deutlichen Symptomen der konzertanten Gattungssprengung in seinem „Eislermaterial“): ein theaterndes Pfingstwunder, eine Kakophonie zeitgeistiger Befindlichkeit.

Goebbels freilich wäre nicht Goebbels und im Grunde seines Achtundsechzigerherzens von der Verbesserungswürdigkeit dieser Welt überzeugt, wenn er – als Komponist wie als Regisseur des neuen Projekts – nicht auch mächtig viel Politisches im Schilde führte. Der 11. September, so mutmaßten die Kritiken der Genfer Uraufführung vom vergangenen Herbst, spiele eine wesentliche Rolle in „Landschaft mit entfernten Verwandten“. (Der Titel übrigens lehnt sich an ein arkadisches Gemälde von Poussin an, welches von David Bennent – der Schauspieler als Conférencier und virtueller Museumsführer – zu Beginn des zweiten Aktes recht weitschweifig gedeutet wird, als Sinnbild des Sichtbaren im Unsichtbaren nämlich, des Idyllischen im Grausamen und als Menetekel für unsere ganze manipulierte Weltwahrnehmung schlechthin). Und in der Tat, besonders zu Beginn des zweieinhalbstündigen, pausenlosen Abends, wenn die Rede auf Amerika kommt und den Krieg und auf ausgefallene Sirenenwarnsysteme, die nunmehr durch „deutsche“ Trompeten ersetzt werden müssten, dann zuckt man schon zusammen. Weil sich ausgerechnet die Oper, die am wenigsten zeitfühlige unter den Künsten, mit einem Mal so hautnah ans Hier und Jetzt wagt; weil man hören, sehen will, wie jene merkwürdig entfremdete Bedrohung seit dem 11. September in Kunst sich löst und also: in sinnlich Fassbares, Fühlbares, unmittelbar Erfahrbares. Mehr als notorisch additive Strukturen jedoch, mehr als einen Reigen esoterisch erlöschender Bilder weiß Goebbels hier nicht anzufertigen. Und so wandeln seine mittelalterlichen Stadtmodelle, zwischen denen irgendwann lustig feuerspuckend der Krieg ausbricht, ebenso hart an der Grenze zur szenischen Beliebigkeit wie die finale Cowboy-Nummer (“Out where the West begins“).

Für die Musiker des Ensemble Modern indes (das Ganze ist beste europäische Konfektionsware und wurde von Genf, Mulhouse, den Berliner Festspielen und dem Ensemble Modern koproduziert) geriet die deutsche Erstaufführung zum Triumph: Was die alles wagen und können, ist fabelhaft. Tanzen, singen, sprechen, fremde Instrumente bedienen – mit einem konventionellen Opernorchester und Chor (der Deutsche Kammerchor steht ihnen in nichts nach) wäre das schon aus gewerkschaftlichen Gründen nicht zu leisten. Allein, dass die Musik hier selbst zum Ereignis wird, zum Körper der Welt, will Goebbels’ Partitur nie recht beglaubigen. Eher stopft sie Löcher in der eigenen Performance. Und so tröten sie denn, die „deutschen“ Trompeten. Und so näseln sie denn, die Flöten der Schlangenbeschwörer. Ungerührt, unverbunden. Bis auf weiteres.

Christine Lemke-Matwey

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