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Herrndorf-Roman "Sand": Wums der Wüste

Böse Mine, gutes Spiel: "Tschick"-Autor Wolfgang Herrndorf hat mit seinem neuen Roman "Sand" einen großartig kunstvollen Unterhaltungsroman geschrieben.

Das vielleicht Erstaunlichste an diesem Roman ist zunächst, dass man sich zu Beginn der Lektüre, die ersten hundert Seiten etwa, von seinem Autor Wolfgang Herrndorf ganz gut auf den Arm genommen fühlt, man überhaupt den Eindruck bekommt, er selbst nimmt auch seine Figuren nicht besonders ernst. Trotzdem kommt man nie auf die Idee, diesen Roman mit dem Titel „Sand“ in die nächste Ecke zu feuern.

Da treten zuerst zwei Kommissare in einer fiktiven nordafrikanischen Stadt namens Targat auf, vermutlich in Marokko, die Polidorio und Canisades heißen, Schneeballschlachten mit zerknülltem Papier oder Verfolgungsjagden mit rollenden Aktenschränken veranstalten und sich die Zeit mit einem IQ–Test vertreiben; dann ist die Rede von dem Amoklauf eines jungen Einheimischen namens Amadou Amadou in einer von Europäern und Amerikanern bewohnten Kommune, bei dem vier Bewohner ums Leben kommen. Dann gibt es zwei Schriftsteller, die Spasski und Moleskine heißen und beide Literaturnobelpreisanwärter sind, demzufolge Konkurrenten. Der eine leidenschaftlicher Schachspieler, der andere mehr an „männlicheren Themen“ interessiert, am Boxen und an kleinen Jungen, mit denen er Wehrsportübungen am Strand absolviert. Und schließlich, als das zweite von fünf großen Kapiteln in diesem Buch beginnt, wird aus dem auktorialen Erzähler, der sich zweimal ganz kurz auch als Ich-Erzähler zu erkennen gibt, ein Kulissenschieber und Regisseur. Er wirft einen Blick „wie auf eine Theaterbühne“, es verschwinden „Männer rechts aus dem Bild“, da taucht „wie ein Schauspieler auf dem Boulevardtheater hinter dem Holzbrett links die Sonne auf“.

Und bei dieser Szene in einer Scheune bekommt man nicht nur endlich das Kerngeschehen des Plots und die Hauptfigur präsentiert, den nach einem Schlag auf den Kopf in eben jener Scheune unter einer schweren retrograden Amnesie leidenden Carl. Sondern man weiß endgültig, dass Wolfgang Herrndorf hier niemand auf den Arm nehmen und ganz ernsthaft einen genauso komischen wie existenzialistisch anmutenden wie an die Filme von Tarantino erinnernden Agentenroman schreiben wollte, aus dessen überscharfer Künstlichkeit er keinen Hehl macht. Es ist schließlich das Jahr 1972, und dem Erzähler ist die Geschichte viele Jahre später zugetragen worden. Er selbst war zu klein, als sich das alles zutrug, mit seinen vermutlich Drogen dealenden Eltern wohnte er seinerzeit im Sheraton von Targat „Die Hotelangestellten liebten mich. Ich trug ein weißes T-Shirt mit den olympischen Ringen drauf und eine kurze Lederhose mit roten Herzchen als Taschen.“

Natürlich denkt man bei Carl, der in Folge vor allem mit Hilfe der schönen, blonden Amerikanerin Helen versucht, seiner Identität auf die Spur zu kommen, schnell an das Schicksal des 1965 geborenen und in Berlin lebenden Autors. Wolfgang Herrndorf leidet seit zwei Jahren an einem Gehirntumor, und er berichtet von seinem Leben damit in einem Internetblog mit dem Titel „Arbeit und Struktur“: von OPs, hirnorganischen Psychosyndromen, epileptischen Anfällen und nicht zuletzt von seinem Schreiben im Wettlauf mit der Zeit, gegen den Tod.

Als „Wüstenroman“ hat Herrndorf seinen neuen Roman in diesem Blog immer mal wieder bezeichnet; ein Roman im übrigen, an dem er schon vor seinem im Herbst 2010 veröffentlichten, unwahrscheinlich erfolgreichen Adoleszenzroman „Tschick“ gesessen hat. Wie bei dem rührend komischen „Tschick“ entsteht bei „Sand“ nie der Eindruck, dass es sich hierbei auch um eine Art von Krankheits- und Schicksalsbewältigung handeln könnte, dass hier ein Schriftsteller mit dem Tod ringt und sich dieser Kampf an vielen Stellen in seinem Roman niederschlägt – höchstens in der Bereitschaft, „Sand“ zu beenden, bevor ihm das aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich ist.

Wenngleich Herrndorf ziemlich radikal mit seinen Figuren umgeht. Mit Carl sowieso, mit denen, die über kurz oder lang dran glauben müssen, aber auch mit den anderen, von denen man nie weiß, ob sie diejenigen sind, als die sie sich ausgeben. Man könnte auch sagen: Nihilismus ist Trumpf. Es gibt zwar einen Plot – es geht um eine Mine (Kugelschreiber, Bergwerk, was auch immer), um Geheimdienstaktivitäten, um Atommaterial; auch den zeitgeschichtlichen Hintergrund verliert Herrndorf nicht aus den Augen, von dem Attentat der Palästinenser auf israelische Sportler in München ist die Rede, von Nixon, den Hippies, den Beatles. Das Besondere an „Sand“ aber ist, dass all das für die Lektüre keine größere Rolle spielt, zumal es sowieso lange dauert, bis man die Handlungsfäden einigermaßen auseinandergeknäuelt und insbesondere die Gedächtnislücken von Carl aufgefüllt hat.

Nein, „Sand“ funktioniert eigentlich auch ohne Handlungsanleitung. Man muss das alles im Detail gar nicht nachvollziehen können. Kapitel für Kapitel, denen allesamt mal mehr, mal weniger passende Zitate aus der Weltliteratur oder sonst woher von Herodot bis Ulla Berkéwicz vorangestellt sind, baut Herrndorf großartige Szenerien zusammen. Problemlos findet man sich in Targat und der Oase Tindirma zurecht, im sogenannten Leeren Viertel der Stadt, im Salzviertel. Genauso in der Scheune, wo es zu dem Kampf zwischen den drei (oder vier?) Männern und Carl kommt. Oder in der unterirdischen Felsenhöhle, wo er später gefoltert werden soll. Oder in den vermeintlichen Praxisräumen des vermeintlichen Psychiaters Dr. Cockcroft.

Aber nicht nur die filmreifen Szenen sind großartig. Sondern auch die Dialoge in diesem Roman, die sich über drei Kapitel hinziehende erste Begegnung zwischen Carl und Cockcroft. Oder der Dialog in einer Bar zwischen Carl und einem jungen Araber namens Risa, der nur Khach-Khach genannt wird und überhaupt nicht weiß, was Carl von ihm will: „Was was kostet?“ – „Minen zum Beispiel“ – „Was denn für Minen?“ – „Eine Mine. Irgendeine“ – „Irgendeine? Du willst wissen, was irgendeine Mine kostet? Und deshalb kommst du hierher?“ – „Die teuerste.“ –„Die teuerste? Eine mit Wums oder was?“ So geht das noch eine Weile weiter, bis Risa komplett ausrastet und Carl von seinem Stuhl schleudert:  „Ich kenn Typen wie dich. Soll ich dir sagen, wer du bist? Du bist ein Intellektueller. Ein Scheißintellektueller, einer von diesen verblödeten Kommunisten, der zu viel von dieser französischen Rollkragenpulloverscheiße gelesen hat und jetzt irgendwas in die Luft jagen will.“

Man kann sich vorstellen, was für einen Spaß es Herrndorf gemacht haben muss, solche Dialoge zu schreiben und sich dabei nicht groß darum zu scheren, wie plausibel es ist, dass einer wie Risa Kenntnis von den Pariser Salonkommunisten mit ihren Rollis hat oder von „führenden Intelligenzblättern Europas“, die „pazifistische Artikel gegen Landminen“ veröffentlichen. Zudem hat Herrndorf sich auch nie darum geschert, wenn von der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur entweder Berlin- oder gesellschaftskritische oder politische Romane eingefordert wurden. Er macht lieber sein eigenes Ding, siehe diesen so quer zu allen Trends liegenden Roman, siehe „Tschick“ oder auch den 2007 erschienenen Erzählband „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“. Wie viel Nihilismus, Existenzialismus und Zeitvergessenheit man aber aus „Sand“ herausfiltern will – am Ende hat man vor allem einen großartig kunstvollen Unterhaltungsroman gelesen.

Wolfgang Herrndorf: Sand. Roman.Rowohlt Berlin, Berlin 2011.480 S., 19, 95€.

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