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Kultur: Der Zahlensammler

Einer, der die Zeit im Bild festhalten wollte: Zum Tod des Konzeptkünstlers Roman Opalka

Die meiste Zeit war Roman Opalka mit dem Verschwinden beschäftigt. Während andere Künstler das Altern, dieses stückweise Verblassen aller Kräfte, ignorieren oder ihm mit großen malerischen Gesten widersprechen, hat es der polnisch-französische Maler zu seinem Thema gemacht. Ganz wörtlich und sichtbar. In einem Werk der sukzessiven Auflösung mit offenem Ende.

Die Entscheidung fiel in den sechziger Jahren: Der 1931 geborene Opalka hatte da mehrfach mit abstrakter Malerei experimentiert, bevor er sich eine Formel verordnete: „1965/1-8“. Als Auftakt einer lebenslangen Aufgabe, die ihn in die Nähe von Konzeptkünstlern wie Hanne Darboven oder On Kawara rückt. Ab dann gab es bloß noch den täglichen Auftrag, die fortschreitende Zeit im Bild festzuhalten. Und Opalka, der links oben auf die Leinwand mit dünnstem Pinsel in winziger Handschrift eine kleine „1“ schrieb und fortlaufend nach rechts und dann in der nächsten Reihe durch wachsende Zahlenkolonnen ergänzte. In Titanweiß auf dunkelgrauer Leinwand, die sich wie die Zahlen eine an die nächste reiht und stets das Maß von 196 x 135 cm besitzt.

Ein Rahmen ohne Spielraum für Extravaganzen. Sprunghafte Abwandlungen waren ebenso ausgeschlossen wie der Übermut des Unbekannten. Bloß die Zahlen wuchsen. Opalkas minimale Abwandlungen wurden erst mit der Zeit und im Vergleich der Arbeiten sichtbar. Dass er den dunkelgrauen Hintergrund langsam und beständig aufhellte – im Wissen um die Konsequenz, dass sich seine Zahlen irgendwann nicht mehr davon unterscheiden würden. Je mehr beides ineinanderfloss, desto stärker besann sich der Künstler auf andere Formen der Darstellung. Nach 1968 begann er, die Zahlen beim Malen auf Polnisch mitzusprechen. Sein Sprechen zeichnete er auf und machte daraus karge akustische Dokumente.

Sparsam ging Opalka mit allen Mitteln um. Den Pinsel tauchte er erst dann wieder in die Farbe, wenn eine Zahl zu Ende geschrieben war. So wurde der Auftrag immer dünner und ließ die Notate schon im Schreibprozess verblassen. Zurück blieb ein wiederkehrendes Muster, mit dessen Hilfe der Künstler seine Bilder strukturiert und einen visuellen Hinweis darauf gibt, wann eine Zahl vollständig ist und wo die nächste beginnt.

Werk und Künstler entwickelten sich innerhalb von Grenzen, die so eng waren, dass es mitunter schmerzhaft zu werden drohte. Das machte seine Arbeit einzigartig: 1977 lud man Opalka zur documenta 6 nach Kassel, zahllose Ausstellungen folgten, Preise ebenso: 1993 etwa der Goslarer Kaiserring als internationale künstlerische Auszeichnung und 2002 der Gerhard-Altenbourg-Preis.

Seine künstlerische Selbstbeschränkung mag den Eindruck erwecken, es habe sich hier einer gegen alle künftigen Strömungen gewappnet. Wilde Malerei, Institutionskritik, neue Figürlichkeit – was soll's? Opalka blieb bei seinen Zahlen und ergänzte sein individuelles diary noch durch ein tägliches Foto. Ein Selbstporträt im weißen Hemd, das Gesicht frontal zum Objektiv, das Licht so neutral wie möglich. Welch ungeheure individuelle Disziplin hinter dieser formalen Entscheidung liegt, lässt sich nur ahnen. Genau wie die Freiheit, die Opalka sich in dieser Reduktion auf seinen stets „Details“ genannten Leinwänden nahm.

Kurz vor seinem 80. Geburtstag ist Roman Opalka nun in Italien gestorben. Während des Urlaubs sei er plötzlich erkrankt, teilte seine Galeristin Monika Branicka mit. Sie zeigte zuletzt im April acht fotografische Selbstporträts in ihren Kreuzberger Räumen, die Ausstellung „Oktogon“ war die erste Berliner Schau seit 17 Jahren, Opalka hatte da gerade die 5 590 000 erreicht. Eine Zahl mit Anspruch auf Absolutheit, wie sie der Künstler selbst definierte: „Für mich ist ,unendlich’ der Punkt, wo ich nicht mehr da bin.“ Christiane Meixner

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