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Kultur: Der Zip-Code

Wiederentdeckung nach 30 Jahren: Die Tate Modern in London widmet Barnett Newman eine grandiose Retrospektive

Seine Bilder heißen „Abraham“ oder „Uriel“, „Adam und Eva“, „Vir Heroicus Sublimis“ oder schlicht „Onement“ (Einssein) oder „Be“ (Sein). Wer Barnett Newman, den Sohn polnischer Juden, zwischenzeitlichen Leiter der Kleiderfabrik seines Vaters, Kurzzeitpolitiker, Möchtegern-Dandy und Mitbegründer des amerikanischen Abstrakten Expressionismus, über seine Bildtitel kennen lernt, könnte ihn für einen Spinner halten, einen religiösen Fanatiker und humorlosen Pathetiker. Einen, der seine Kunst zur Religion gemacht hat und dann, wie mit dem Soßenlöffel, Bedeutung draufhäuft. Kunst als Glaubenssache: was für eine Anmaßung. Aber dann steht man vor den Bildern – und taucht ein in ein Universum aus Farbe, in pure Überwältigungskunst.

120 Gemälde hat Newman hinterlassen. Knapp die Hälfte davon sind nun in der Londoner Tate Modern Gallery zu sehen, als Übernahme aus Philadelphia. Die Kunsthalle Basel, die früher als andere Museen entdeckte, was für ein Genie hier am Werk war und 1959 als erste öffentliche Institution ein Bild ankaufte, geht leer aus – mehr als zwei Stationen erlaubten die Leihgeber nicht. Aber auch in Berlin ist Newman kein Unbekannter: 1981 ruinierten sich der Verein der Freunde der Nationalgalerie und die Staatlichen Museen Berlin fast beim Ankauf des monumentalen Bildes „Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau“ für den damals außerordentlich hohen Preis von 2,5 Millionen Mark. 1982 wurde das Bild – das nicht nach London verliehen wurde – von einem geistig Behinderten schwer beschädigt. Weil er es nicht ertragen konnte – der Mann hatte Newman verstanden.

Zum ersten Mal seit dem Tod des Malers 1970 und der darauffolgenden Retrospektive im New Yorker „Museum of Modern Art“ ist sein Werk nun in solchem Umfang zu sehen. Die Ausstellung kommt einer Wiederentdeckung gleich, aber auch einer Wiedergutmachung. Lange nachdem die Polemiken um die Abstraktion verklungen sind, lange nachdem der Einfluss der so viel erfolgreicheren Freunde Mark Rothko und Jackson Pollock sich relativiert hat, kann Barnett Newman nun endlich als ihnen ebenbürtiger Meister gewürdigt werden: als einer der wenigen Maler des 20. Jahrhunderts, der einem einmal gefundenen Weg treu blieb bis zum Ende.

Sein System kennt jeder: diese immensen Farbflächen, getrennt durch einen oder mehrere schmale Streifen, „Zips“, Reißverschlüsse, wie Newman sie nennt. Was in London neu zu entdecken ist, ist der mühevolle Weg, der zu diesem scheinbar so simplen Konzept führt. Da sind die Anfänge mit Anleihen bei Miró, Mondrian und Max Ernst, surrealistisch heitere Schwünge, Pflanzen- und Insektenformen, Baumformationen vor runden Monden. Und dann, mit „Onement I“ aus dem Jahr 1948, mit 43 Jahren also der Durchbruch: eine rostfarbene Fläche, durchstoßen von einem kadmiumroten Streifen. Der „Zip“ war entdeckt, der Übergang vom „Bild“ zu „Malerei“ vollzogen.

Von nun an wird variiert – und immer neu entdeckt, mit neuer Bedeutung, neuem Sinn aufgeladen. Newmans Bilder sind keineswegs eine endlose Variation des Gleichen: Keine Farbe, kein Bildaufbau wiederholt sich, kein Bild kopiert das Vorangegangene. „Abraham“ zum Beispiel, 1949 entstanden, ist ein breiter nachtschwarzer Streifen auf graugrünem Schwarz. Ein todesdüsteres Bild, streng, autoritär. Man muss nicht an den biblischen Patriarchen denken – wenn man weiß, dass Newmans eigener Vater Abraham hieß und 1947 gestorben war. Oder – das Gegenstück, viel später – „Annas Licht“ (1968): Mit 275 mal 610 Zentimetern das größte Bild, das Newman jemals gemalt hat, und bei weitem das strahlendste. Eine Symphonie in leuchtendem Rot, ein schierunendliches Feld und doch begrenzt, gehalten von zwei schmalen Streifen Weiß. Anna, Newmans Mutter, war 1968 gestorben.

Man muss Newmans Bilder nicht biografisch lesen, man muss auch die prätenziösen Titel nicht unbedingt verknüpfen: Konfrontiert mit dem Vorwurf, seine Bilder seien formalistisch und abstrakt, fügte Newman die Titel häufig erst später hinzu. Dass in diesen Farborgien ein Weltentwurf steckt, dass sich das strenge System, mit dem Newman Formate und Formen ausbalanciert, mit einem Verständnis von Malerei als reinem Gefühl trifft, merkt jeder, der sich dem Sog der Bilder aussetzt. Der die irdene Schwere in „Adam“ erfährt, das Erdbraun, das Newman mit „Erde“, „Mensch“ und „Rot“, den verschiedenen Bedeutungen von Adam im Hebräischen, erklärt – und mit einem leidenschaftlichen Rot konfrontiert. Oder das kühle, blasse Türkis von „Uriel“, dem Engel des Lichts: eine wasserhelle Fläche, abgesetzt mit Dunkelbraun. Das ist eine Überraschung im Werk des sonst so sehr auf Rot und Blau spezialisierten Malers.

Am Ende braucht es noch nicht einmal die Farbe. Herz und Höhepunkt der Londoner Ausstellung ist Newmans opus magnum, die 14 Kreuzweg-Stationen, die er 1958 bis 1966 malte und die heute in der National Gallery in Washington hängen. 14 gleichformatige Bilder nur in Schwarz-Weiß. Begonnen nach einem schweren Herzinfakt im Jahr 1957 sind die ersten Bilder noch tastende Versuche, einen Weg zurück zur Kunst zu finden: ein schwarzer Streifen, dazu ein weißer, locker übermalt, viel leerer Raum. Es heißt, Newman habe erst nach zwei Bildern realisiert, dass eine Serie daraus werden müsse, und erst nach vier, dass es die Kreuzweg-Stationen sind. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, stellt er am Ende den Bildern voran.

In Newmans letztem Bild schließt sich dann der Kreis – und er öffnet sich zugleich. „Be I“ ist die Replik eines Bildes von 1949, das 1959 beschädigt wurde. „Be II“ hatte die Kreuzwegstationen 1961 abgeschlossen. „Be I (Second Version)“ malte Newman 1970 kurz vor seinem Tod: ein wunderbares Dunkelrot, dicht und intensiv, flächig wie eine Mauer, und zentral geteilt durch einen messerscharfen, fadendünnen weißen „Zip“. Es scheint, als ob die Leinwand auseinanderklafft, um den Blick auf das Dahinterliegende freizugeben. Und dahinter liegt –pures Licht.

Man müsse nahe an seine Bilder herangehen, hat Newman verfügt. Deshalb hat er sie so groß gemalt: Damit der Betrachter unweigerlich den Überblick verliert, seine Distanz aufgibt und eintaucht in die Farbe, in ihre Textur und Intensität. Deshalb wirken Newmans Bilder in Katalogen so blass und langweilig. Weil sie, auf DinA4-Format verkleinert, ihre Kraft einbüßen. Und weil die Dichte des Farbauftrags, der unendlich vielen Schichten, die Newman gewissenhaft übereinanderlegte – manchmal malte er nur ein Bild pro Jahr – in der Reproduktion unweigerlich verlorengehen. Allein das ist ein Grund, sich immer wieder der unmittelbaren Erfahrung auszusetzen. Wer Newmans Bildern begegnet, kann den Glauben wiederfinden – wenn nicht an Gott, so doch auf jeden Fall an die Kunst.

Barnett Newman, Tate Modern, bis 5. Januar, Sonntag bis Donnerstag 10 Uhr15 bis 18, Freitag und Sonnabend bis 22 Uhr. Der Katalog kostet 25 Pfund.

Christina Tilmann

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