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Kultur: Des Wahnsinns nette Beute

„Orlando Paladino“ an der Berliner Staatsoper: ein mäßiger Haydn-Spaß

Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. In diesem Mittelalter-Fantasy-Haydn-Spaß jedenfalls spukt es gewaltig. Eine Ballerina mit Zottelbart irrlichtert zwischen den Stämmen herum, ein Schneider mit Schnippschnappschere schwebt über den Wipfeln, wildes Volk wuselt durchs Gebüsch, der Koch, der Bischof, die Stewardess und die Prinzessin. Hallo, Huhu! Kein Wunder, dass Pasquale – der an seinem Riesenrucksack samt Stoffesel schwer tragende Knappe des Ritters Orlando – sich vor lauter Muffensausen hinter der erstbesten Mini-Tanne versteckt. Was wegen des Größenunterschieds naturgemäß nicht funktioniert.

Überhaupt ist der Wald eher eine Ansammlung von struppigen Nadelbäumen als eine veritable Gruselmärchenwelt. Ein Kasperletheater mit kreiselnder Drehbühne samt Ritterburg und Wappensaal. Hier gilt’s nicht dem Irrsinn der Kunst, hier gilt’s dem Budenzauber. Der Brite Nigel Lowery und der iranische Choreograf Amir Hosseinpour, sonst Garanten für Regie-Verrücktheiten der intelligenten Art („Rinaldo“ 2003 an der Lindenoper, mit echtem Esel!), begegnen Haydns Semi-Seria seltsam leidenschaftslos.

Komponiert hatte Joseph Haydn seinen „Orlando Paladino“ (das Libretto basierte auf Ariosts Bestseller-Epos „Orlando furioso“) 1782, anlässlich eines Besuchs des russischen Großfürsten auf Schloss Eszterháza – seinerzeit die Opernwerkstatt schlechthin. Zwar reiste die hohe Herrschaft zur Uraufführung dann doch nicht an, aber die Oper wurde ein Hit, in ganz Europa. Nikolaus Harnoncourt hat sie mit dem Concentus Musicus Wien 2005 für das Grazer Styriarte-Festival ausgegraben und 2007 in Wien unter Regie von Keith Warner very British auf die Bühne gebracht. Zu Haydns 200. Todestag nun die Neuinterpretation mit dem analytisch feinsinnigeren René Jacobs und dem Freiburger Barockorchester im hochgefahrenen Orchestergraben – nach der konzertanten Vorstellung durch die Berliner Philharmoniker im März.

Der rasende Roland verzehrt sich nach der chinesischen Königin Angelica, die wiederum den Schönling Medoro liebt, so der Plot der knalleffektreichen Ritter-Burleske in drei Akten. Die mächtige Zauberin Alcina sorgt für allerlei Verwandlungen auf offener Bühne, für Höllenfahrten, Versteinerungen und kollektive Sleep-ins; der Haudegen Rodomonte fuchtelt mit Degen und Krücke dazwischen; das Buffo-Paar – der mit gleich zwei Registerarien Mozarts Leporello vorwegnehmende Pasquale und die Schäferstochter Eurilla – fügt dem Dramma eroico-comico eine kräftige Portion erotico hinzu. Im zweiten Akt fährt Pasquale sämtliche musikalischen Techniken auf, um seiner Eurilla zu imponieren. Bebende Arpeggien, erregende Triller, orgiastisches Staccato: Die gewitzte Maid quittiert den Musikschulmädchenreport mit spitzen Tönen.

Warum nur belassen es Lowery und Hosseinpour (die auch Bühne und Kostüme verantworten) bei der kreiselnden, wahlweise bewaldeten oder leer geräumten Drehbühne und bescheiden sich bei Alcinas Zauberhöhle mit Theaternebel vor Eisernem Vorhang? Warum die Entpolitisierung des Liebeskriegs zwischen Heiden und Christen? Warum macht der liebeswütige Orlando als bärtiger Waldschrat und nach seiner Heilung als Polizist eine so dämliche Figur? Warum all die Verkleidungen? Die Schäferin trägt Förstersjacke und Faltenrock, der LetheFährmann kommt als Schlafmütze des Wegs, Rodomonte wütet in Piratenkluft herum, während Angelica und Alcina die Wahl zwischen kleinem Schwarzen und Miss-Asien-Robe haben. Und warum erneut die choreografierte Gestik, die abgezirkelte Zeichensprache?

Die brillante Marlis Petersen als Angelica jedenfalls muss bei ihren herzergreifenden Arien wie ferngesteuert über die Bühne tappen. Alles so uneigentlich hier: Lowery undHosseinpour lassen die Marionetten tanzen, Aufziehpuppen im Vergnügungspark. Neben Petersens geschmeidig-souveränem Sopran kann nur Sunhae Im als Eurilla den V-Effekten der Regie Momente der Wahrheit abtrotzen – wenn sie etwa ihre vermeintliche Arglosigkeit so kokett wie geschickt als weibliche Waffe einsetzt und mit glasklar-pfiffiger Diktion die Männer austrickst. Alle anderen verblassen daneben: das unkontrollierte Timbre von Alexandrina Pendatchanska (Alcina), der schwächelnde Tenor von Magnus Staveland (Mendoro), der brave Tom Randle (Orlando), der wackere Rodomonte des Pietro Spagnoli und der sich angestrengt durch seine PasqualePartie kalauernde Victor Torres.

Ein Missverständnis, diese Gliederpuppenstube. „Orlando Paladino“ ist mehr als die Parodie barocker Spieldosenmechanik. Die Mischung aus galantem, heroischem und burleskem Stil führt nämlich zu der Einsicht, wie dicht Selbstironie und Seelendramatik beieinander liegen, wie nahe Haydn hier weniger an „Don Giovanni“ als an Mozarts „Zauberflöte“ heranreicht. René Jacobs macht das augen- und ohrenfällig.

Von der urkomisch aufstampfenden Schicksalsouvertüre bis zur Happy-EndParodie, dem Finale „Liebt immer den, der euch liebt“, besagt die Musik: Oper ist unmöglich, ist Heimsuchung und Exorzismus, Verwirrung und Aufklärung, Panikattacke und Schmerzlinderung – und zwar mitten in der Pappmaché-Kulisse. Oper ist beides, des Wahnsinns fette und nette Beute. Zum Totlachen eigentlich. Das Premierenpublikum fand allerdings kaum Anlass zur Heiterkeit.

Jacobs und die Freiburger präsentieren eine hochsensible, erfrischend vitale Musik, die sich ehrlich macht. All das Pochen und Seufzen, Stocken und Stottern, die bangen Sekundreibungen in den Rezitativen und die Hysterie der Koloraturarien entlarven den Gesang als Angsttherapie, als das berühmte Pfeifen im Wald. Auch das ist beides: authentischer Ausdruck und Ritual. Davon hätte man gerne etwas gesehen, ob mit oder ohne Tannen.

Wieder am 10, 12., 15. und 17. Mai

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