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Deutsch-kanadischer Fotograf: C/O Berlin entdeckt Fred Herzog

Die Galerie C/O Berlin präsentiert 33 Fotografien von Fred Herzog, die zwischen 1958 und 1971 entstanden. „Der Stil ist der Mensch“, bekennt der heute 80-Jährige Künstler.

Ein Vormittag in Downtown Vancouver. An der East Hastings Street steht ein Mann im weißen T-Shirt und blinzelt in die Sonne. Sein linkes Handgelenk ist notdürftig verbunden, an seinem Kinn klebt ein blutiges Stück Taschentuch. Die Schlägerei, in die er offensichtlich verwickelt war, kann noch nicht lange her sein. Mit der rechten Hand winkt er einen Bus heran, am Oberarm sind blaue Flecken zu erkennen. Anders die ältere Dame wenige Schritte hinter ihm. Mit strengem Blick erwartet sie den Bus, ihre weißen Handschuhe ordentlich zusammengefaltet, die Geldbörse griffbereit. Eine Alltagsszene aus dem Jahr 1968.

Nichts Außergewöhnliches, mag man denken, und Fred Herzog würde nicht widersprechen. Genau darum ging es dem Fotografen. Stets auf der Suche nach Motiven, die es nicht in die Zeitung schafften, zog Herzog zu Fuß durch die Stadt an der kanadischen Westküste. Ihn interessierte der gewöhnliche Alltag Vancouvers. Ständige Begleiter: seine Leica M3 und ein 50-Millimeter-Objektiv. Sie ersetzt ab 1957 seine Kodak Retina I mit Klapptubus, die er aus Deutschland mitgebracht hat. Sie ist klein und dank des völlig neu gestalteten Verschlusses ausgesprochen leise. Das sei wichtig, wenn man Menschen aus nächster Nähe fotografiere, so Herzog. Sie dürften nicht wissen, dass sie aufgenommen werden. Nur so, betont er, entstehen gute Bilder. „In hundert Jahren sollen die Leute sehen, wie wir ausgesehen haben – nicht, wie wir aussehen wollten“, lautet seine Devise.

Als Künstler sieht er sich damals noch nicht. Seine privaten Fotoreportagen entstehen nach Feierabend. Tagsüber arbeitet er als medizinischer Fotograf in einem Krankenhaus und leitet später eine Foto- und Filmabteilung an der University of British Columbia. Da hat er bereits eine kleine Odyssee hinter sich. 1930 im württembergischen Bad Friedrichshall geboren, verliert er als Jugendlicher beide Eltern. Anfang Zwanzig wandert er nach Toronto aus und zieht ein Jahr später nach Vancouver. Dort arbeitet er drei Jahre lang auf Dampfschiffen, die zwischen Kanada und Alaska pendeln. Hier entstehen ab 1953 seine ersten Farbfotografien auf Diamaterial – fast ein Vierteljahrhundert bevor Farbfotos auch als künstlerisches Medium anerkannt werden. Nach ein paar Jahren des Ausprobierens findet er seinen eigenen Stil. Zentrale Motive: Schaufenster, Passanten, Reklame.

Die Galerie C/O Berlin präsentiert nun erstmalig in Deutschland 33 Fotografien von Fred Herzog, die zwischen 1958 und 1971 entstanden. „Der Stil ist der Mensch“, bekennt der heute 80-Jährige – auf fast jedem der Bilder sind Personen zu sehen. Seine Kamera erfasst sie in Momenten, in denen sie sich unbeobachtet fühlen: asiatische Männer in Chinatown, die Zeitung im Schaufenster lesen, ein junges Pärchen, das unter einem pinkfarbenen Regenschirm die Smithe Street überquert, ein alter Mann, der rauchend aus seinem Fenster blickt. Immer wieder taucht die Granville Street auf, damals ein Publikumsmagnet mit Kinos, Clubs, Theatern und Striplokalen. Herzog zeigt auch die Rückseite des glitzernden Nachtlebens: leerstehende Geschäfte, heruntergekommene Fassaden, trostlose Straßen.

Auf fast jedem Bild finden sich Spiegel, Glasscheiben oder Schaufenster. Sie gewähren Einblick und bilden eine Trennlinie zwischen Beobachter und Beobachteten. Herzog fotografiert in beide Richtungen – nach draußen, wie auf dem Bild, das durch sein Zimmerfenster in der Harwood Street aufgenommen ist, und nach drinnen, etwa den grauhaarigen Buchhändler, der ein Comic-Heft liest. Beim Herrensalon auf der Main Street erlaubt er sich zwei verschiedene Perspektiven. Das eine Bild zeigt den Laden vom Bürgersteig aus, während das andere durch die Fensterfront die Sicht auf die Straße freigibt. Der doppelte Blick veranschaulicht Herzogs Sichtweise: Als deutscher Einwanderer in Vancouver war er beides – neugieriger Beobachter und stolzer Bewohner seiner neuen Heimatstadt.

C/O Berlin Oranienburger Straße 35/36, bis 9. Januar, täglich 11–20 Uhr

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