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Schleyer-Entführung

© Imago

Deutscher Herbst: Die RAF verstehen

Heute vor 30 Jahren wurde Hanns Martin Schleyer entführt. Damit begann der Deutsche Herbst. Regisseur Andres Veiel erinnert sich an ein unvergessliches Kapitel der deutschen Geschichte und seine Protagonisten.

Es ging ein Riss durch die Klasse, ein Riss, der auch die Familien teilte und die Stadt. Stuttgart war der Ort der Stammheim-Prozesse und des Theaters von Claus Peymann, der zu Spenden für den Zahnersatz von Gudrun Ensslin aufrief und deshalb entlassen werden sollte. In der Schule gab es die Fraktion der Junge-Union-Anhänger. Den Ortsverband Stuttgart-Möhringen hatte ich noch selbst mit gegründet, inzwischen aber die Seite gewechselt. Meine Clique ging zu den Stammheim-Prozessen und solidarisierte sich mit Peymann.

Zwischen den Fraktionen herrschte Schweigen. Am Morgen des 18. Oktober 1977 saßen wir im Chemieunterricht und hörten Radio. Als die Nachricht von den Toten in Stammheim kam, klatschte die Junge-Union-Fraktion Beifall, während für mich klar war, dass es nur Mord sein konnte. Später sah ich das anders. Aber an diesem Tag hatte ich einen stummen Hass auf die, die nicht erkennen wollten, dass die Demokratie mit dem Tod der Gefangenen ihre Fratze entblößt hat.

Vom Zuschauer zum Subjekt der Geschichte

Der Deutsche Herbst vor 30 Jahren: Viele haben Ähnliches erlebt. Während der Entführung von Hanns Martin Schleyer geriet auch ich in eine Fahndung, als ich zu meiner Freundin nach Freiburg trampte. Ich stand in der Autobahnraststätte an der Wand, und fühlte mich beklommen. Aber es war auch eine Initiation, entsprach die Situation doch dem Wunsch, Teil der Geschichte zu sein. Wer in die Mündung einer Maschinenpistole sieht, wird vom Zuschauer zum Subjekt der Geschichte. Ich war stolz, dazuzugehören.

Dieser Wunsch hatte auch mit dem Gefühl zu tun, dass wir zu spät sind. Wir 77er waren die Epigonen der 68er, die noch nichts Eigenes hatten. Selbst die sexuelle Befreiung borgten wir uns aus, bemalten unsere Körper, machten Action-Painting oder zogen in der Mercedes-Stadt Stuttgart ein Auto ohne Reifen über die Straße. Metall auf Asphalt. Die Funken sprühten, und die Bewohner regten sich auf. Geliehene Provokationen.

Ein CDU-Stadtrat, der mir aus meiner Zeit bei der Jungen Union zugetan war, sagte: „Wenn du in diesem Land etwas werden willst, geh’ nicht zu den Prozessen. Ich sage dir als Freund, es gibt ein Dossier über dich.“ Ich trug einen Poncho und lange Haare, zog auf dem Marktplatz mit einem dicken Pinsel eine rote Linie, die wir die „kommunikative Linie“ nannten. „Leute wie euch sollte man ins Gas schicken“, sagten manche. Weil dieselben Leute auch sagten, von den Nazi-Verbrechen hätten sie nichts gewusst, konnten wir uns doppelt empören. Die Reaktionen auf unsere Aktion waren der Beweis für die akute Gefährdung der Demokratie. Die Eltern hatten versagt, wir wehrten wenigstens den Anfängen.

Baader, Ensslin und Meinhof waren für uns weniger die „neuen Menschen“ einer revolutionären Epoche als diejenigen, die sich opferten. Der Mythos des Märtyrertums. Damit hatten sie meine Generation am Angelhaken. Wir waren nur Alibi-Rebellen, die nie in den Untergrund gegangen wären. Die Widersprüche der RAF, ihr Zynismus, die Anmaßung zu entscheiden, wer auf die Todesliste gesetzt wird – all diese Zweifel kamen mir bald, aber ich machte sie mit mir alleine aus. Weil ich nicht schon wieder nicht dazugehören wollte. Was bleibt von dieser biografischen Prägung, der Initiation, die ja fast alle heute 45- bis 50-Jährigen gemeinsam haben, die, die heute das Sagen haben? Bei mir war es das kritische Bewusstsein, das Wissen um das Recht auf den Zweifel. Seinerzeit habe ich mir einen Werkzeugkasten zusammengestellt, für die kritische Demontage von unhinterfragten Macht- und Autoritätsverhältnissen. Und seitdem kreist meine Arbeit um den Deutschen Herbst.

Die RAF-Leute wollten den Widerstand nachholen, den ihre Eltern versäumt hatten

In meiner Jugend habe ich die Biografien meiner Eltern und Großeltern wie gewaltige monolithische Blöcke erlebt. Es war nicht leicht, im Schatten dieser Bedeutsamkeit die eigene Existenz zu rechtfertigen. Der Großvater, der General im Russland-Feldzug war. Die Mutter, die die „Reichskristallnacht“ miterlebte und in der DDR verhaftet wurde. Mein anderer Großvater, der als Oberstaatsanwalt von den Russen verschleppt wurde. Mein Vater, der im Krieg mitansehen musste, wie Köpfe weggeschossen wurden. Daraus setzt sich meine Familiengeschichte zusammen. Und aus solchen historisch gesättigten und beschädigten Biografien besteht auch der deutsche Familienroman der Nachkriegszeit, eine Saga voller Verstrickung, Schuld, Scham, Schweigen und Grauen. Ohne all das ist der Deutsche Herbst nicht denkbar.

Einer der Kernpunkte aller RAF-Debatten ist die Gewaltfrage. Man kann sie nicht beantworten, ohne auf 1968 zurückzuschauen, auf die ersten Anschläge nach den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg. Rudi Dutschkes Satz, Gewalt gegen Personen sei abzulehnen, nicht aber Gewalt gegen Sachen, basiert auf dem Glauben jener Jahre, man könne mit Gewalt tatsächlich etwas verändern. Bei der Tet-Offensive des Vietcong waren die Rebellen am Ende zwar tot, aber der amerikanische Botschafter in Saigon konnte in die Flucht geschlagen werden. Gegen die Riesensupermacht USA ließ sich etwas ausrichten! Frankreich im Mai: Viele glaubten, es müsse nur der kleine Motor der Gewalt angeworfen werden, damit der große Motor Revolution in Gang kommt.

Wenn Jan Philipp Reemtsma heute sagt, der RAF-Terrorismus sei nur Größenwahn und Lust an der Gewalt gewesen, irrt er. Die Rechtfertigungsmodi ihres sinnlosen Mordens glichen in der Tat einem Wahnsystem. Jeder Wahn hat aber, indem er Angst verarbeitet, einen realen Kern. Es gab berechtigte Ängste: vor staatlichen Repressionen und einer durch Springer aufgeheizten öffentlichen Stimmung, in der auf Rudi Dutschke ein Attentat verübt wurde und ein Schweizer Fotojournalist, der Dutschke ähnlich sah, beinahe gelyncht wurde. In Griechenland hatte das Militär geputscht, in Italien war nach den Anschlägen Ende 1969 ebenfalls die Gefahr eines faschistischen Staatsstreichs gegeben. Das Szenario einer näher rückenden faschistischen Bedrohung war eines der Motive für Andreas Baader und Gudrun Ensslin, in den Untergrund zu gehen.

Ein anderer war die Illusion einer internationalen Bewegung von Kuba bis Mexiko, Dakar, Spanien, Portugal, Italien, Berlin, Paris, Chicago, San Francisco. 1967/1968 konnte man Linien um den Globus ziehen, es war die erste globalisierte Protestbewegung. 1969 war ihr Scheitern nicht mehr zu übersehen. Das Phänomen des Terrorismus bricht immer während des Niedergangs einer Protestbewegung aus. Man glaubt, mit Gewalt doch noch etwas erreichen zu können..

Gleichzeitig kann man die RAF und den Deutschen Herbst nicht ohne das Private im Politischen verstehen. Es lohnt sich, auch in den Biografien nach Hintergründen und Zusammenhängen für die Entstehung der RAF zu suchen. Baader fährt mit Gudrun Ensslin im März 1968 zur Mutter aufs Land bei München und sagt ihr: Wir wollen in Frankfurt ein Kaufhaus anzünden. Und die Mutter antwortet nicht etwa: Bist du verrückt? Sondern sie fragt: Bist du für so etwas reif genug?

Verwirrungen in der Biografie

Die Vorgeschichte: Ihr Mann, Soldat im Russlandfeldzug, erfuhr auf Heimaturlaub an der Uni München von den Verhaftungen der Geschwister Scholl. Er kam nach Hause und sagte: Jemand muss weitermachen mit dem Widerstand, warum nicht ich. Aber die Mutter zeigte auf ihren dicken Bauch, sie war im achten Monat schwanger mit Andreas. Daraufhin ging der Vater nicht in den Untergrund, sondern an die Front zurück und starb dort. Jahre später sagt die Mutter in einem Interview: „Andreas hatte den Mut, den mein Mann nicht hatte.“ Sie dreht die Geschichte um, denn sie war es selbst, die ihren Mann davon abhielt, ein Widerstandskämpfer zu werden. Der Sohn hat diese Verdrehungen fortgesetzt. Immer wieder hat Baader seine Biografie erfunden und unter anderem behauptet, sein Vater sei ein Widerstandskämpfer gewesen.

Bei Gudrun Ensslin gibt es etwas Ähnliches. Ihr Vater stand als Pastor der Bekennenden Kirche nahe. In einer Predigt sagte er: Hitler ist groß, aber Gott ist größer. Er bekam Ärger und meldete sich 1941 an die Front, um seine Regimetreue unter Beweis zu stellen. Wie Baaders Vater machte auch er nur den halben Schritt. Die mörderische Konsequenz der RAF, das Soldatisch-Preußische, mit dem Pläne zu Ende ausgeführt werden mussten, erklärt sich vor diesem Hintergrund. Die RAF-Terroristen waren nicht Hitlers Kinder, sondern die Kinder derer, die nicht den Mut zum Widerstand aufbrachten.

Auch andere Aspekte der RAF sind trotz der Flut von Filmen und Büchern kaum ausgelotet. Die kürzlich veröffentlichte Urteilsschrift gegen Folkerts, Klar und Mohnhaupt zeigt: Der Staat und die Gerichte haben ein Deutungsmuster, das mit dem der Täter kongruent ist. Sie verstehen die RAF als geschlossenes Kollektiv. Das Subjektive existierte auf beiden Seiten nicht. Die Phase der Individualisierung beginnt erst jetzt.

Aufarbeitungsbedarf besteht nicht nur bei der RAF. Im „Zeit“-Interview mit Helmut Schmidt wird deutlich, dass auch auf Seiten des Krisenstabs zur Zeit der Schleyer-Entführung ein ungeheures Schuldpotenzial liegt. Schleyer, der geopfert werden muss, 90 Urlauber in Mogadischu, die schon mit Alkohol übergossen sind, während der Sprengstoff bereits verteilt ist – hier spielte der Krisenstab Toten-Schach. Wenn Schmidt nun darüber spricht, in welchem Maß er selbst und etliche andere im Krisenstab von den Grauen des Krieges geprägt waren, schlägt er seinerseits ein bislang kaum erzähltes Kapitel aus dem deutschen Familienroman auf.

Jahrestage bergen die Gefahr der Endlosschleife. Die Deutschen zeigen sich die immer gleichen Bilder, halten sich die immer gleichen Texte vor. Der Symbolcharakter der die Gesellschaft in Wellen ereilenden RAF-Debatten kann nur unterlaufen werden, wenn zwei Dinge passieren. Erstens muss die Politik den Grad der Hysterisierung verringern, indem sie sagt: Die RAF ist Geschichte, von keinem der Täter geht heute noch eine reale Bedrohung aus. Aber wir wollen diese Geschichte aufarbeiten. In ersten Ansätzen geschieht das jetzt. Zweitens muss von Seiten der RAF der Mut aufgebracht werden, sich individuell dem eigenen Handeln, den Verbrechen, der Schuld zu stellen. Das Kapitel RAF ist erst dann abgeschlossen, wenn die Angehörigen die Möglichkeit haben, dem Mörder des Ehemannes, des Bruders, des Vaters in die Augen zu schauen und ihm Fragen zu stellen.

Hätten Kompromissse die Todesspirale aufgehalten?

Wie ist es später eigentlich gelungen, die RAF dazu zu bringen, sich vom bewaffneten Kampf zu verabschieden? Darauf können wir stolz sein. Deutschland ist kein Polizeistaat geworden, und die RAF existiert nicht mehr, während in Italien noch immer die Bomben der Brigate Rosse explodieren und die baskische ETA weitermordet. Die Deeskalation 1990/91 durch die Kinkel-Initiative, Hafterleichterungen und erste Begnadigungen haben zu dieser Befriedung beigetragen.

Was wäre, wenn man nach dem 5. September 1977 mit Schleyers Entführern verhandelt hätte? Mit Mördern auf Augenhöhe zu verhandeln, wurde im Krisenstab mit „Feigheit vor dem Feind“ gleichgesetzt. Aber was, wenn man versucht hätte, die Spirale des Todesspiels mit Kompromissen zu durchbrechen? Alfred Klaus, ein hochrangiger Beamter im BKA, der in direktem Kontakt mit Baader stand, hatte bereits Ende September 1977 vorgeschlagen, Baader dazu zu bringen, öffentlich zur Freilassung Schleyers aufzurufen. Baader sei klar gewesen, das der Staat die RAF-Gefangenen nicht austauschen würde. Man hätte ihm aber vermitteln können, dass die RAF noch einen moralischen Sieg erringen könnte. Der Vorschlag wurde nicht einmal zum Krisenstab weitergeleitet.

Alfred Klaus ist heute noch davon überzeugt, dass es spätestens mit der Entführung der Landshut möglich gewesen wäre, Baader dazu zu bringen, zumindest zur Freilassung der verschleppten Passagiere aufzurufen. Mehrfach habe sich Baader von dieser „terroristischen Gewalt gegen Zivilisten distanziert“. Die kühnen Vorschläge des damaligen BKA-Mitarbeiters münden in einer ketzerischen These: Die Radikalisierung der nächsten RAF-Generation, die Morde nach 1977 – zwölf Attentate mit über dreißig Toten – wären vermeidbar gewesen.

Eine Debatte darüber hat bislang nicht stattgefunden. Aber eine Aufarbeitung der RAF-Geschichte ist erst möglich, wenn es gelingt, ein Klima des Fragens, der Nachdenklichkeit und der Neugier zu schaffen, das es erlaubt, die politischen, juristischen, biografischen und gesellschaftlichen Ansätze in all ihrer Widersprüchlichkeit miteinander zu verknüpfen.

Erst dann kann das am Grund der deutschen Nachkriegszeit liegende Wrack gehoben werden, in dem die Schuldkomplexe beider Seiten einbetoniert sind. Auch 30 Jahre danach.

Der Autor, Jahrgang 1959, lebt als Filmemacher in Berlin. Mit den siebziger Jahren und der RAF befasste er sich u.a. bereits in „Die Überlebenden“, einem Dokumentarfilm über seine Abiturklasse, und in „Black Box BRD“ über Alfred Herrhausen und Wolfgang Grams. Zuletzt erschien sein Buch „Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt“ (DVA) nach dem gleichnamigen Doku-Theaterstück. Zur Zeit arbeitet er an seinem Spielfilm „Die frühen Jahre“ über Bernward Vesper, Gudrun Ensslin und Andreas Baader.

Andres Veiel

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