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Guntram Brattia, geboren 1966 in Innsbruck. Gelegntlich spielte er Filmrollen wie 2003 in "Verkauftes Land"

© Imago

Deutsches Theater: Guntram Brattia geht

Ein Tiroler gehört auf den Gipfel. So sieht er das, Guntram Brattia, Schauspieler und im Ensemble des Deutschen Theaters einer der besten. Warum der Hoffnungsträger am Ende der Spielzeit das Deutsche Theater verlässt

Es ist Stockfinster. Das Publikum schaut auf eine unbeleuchtete Bühne, über die eine Gestalt taumelt. "Ich bin hier!" ruft sie und tritt etwas näher. "Hallo!" Erst jetzt ist ein junger Mann zu erkennen, der die Last eines Theaterabends umklammert: Mit den Fingern einer Hand hält er acht Kaffeetassen, über den anderen Arm hat er zwei Ballkleider, fünfunddreißig Tafeln Schokolade und einen Degen geworfen und vier exotische Blumen zwischen die Zähne gesteckt.

Das ist Guntram Brattia. "Ich betreue das hier alles", erklärt er seinen Auftritt. Und setzt hinzu: "Die lieben mich alle." Es klingt nicht sehr zuversichtlich. Wie von jemandem gesagt, der vor der Monströsität einer unbewältigten Aufgabe zurückschreckt.

Es sei tatsächlich ziemlich heikel, berichtet Brattia, der in Moritz Rinkes Stück "Der Mann, der noch keiner Frau Blöße entdeckte" einen hilflosen Theaterregisseur spielt. Jedes Mal müsse er fürchten, sich den Weg über eine leere Bühne zu ertasten und einen ebenso leeren Zuschauersaal vorzufinden. Ein Schauspieler-Albtraum vermutlich, auch wenn dieser Fall derzeit an keiner Bühne so wahrscheinlich ist wie an den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Nach dem Umbau und einem hoffnungsfrohen Neuanfang unter dem jungen Leitungsteam Stefan Otteni / Martin Baucks erlebten sie ein künstlerisches Fiasko. "Es gibt nichts Fragwürdigeres, als ein Theater ohne Publikum", fasst Brattia seine Enttäuschung zusammen. "Der ganze Aufwand an Probenzeit, Kostüme zu nähen, Bühnenbilder zu zimmern: umsonst." Als Ensemblesprecher konnte er sich dem wachsenden Unmut seiner Kollegen über die Konzeptlosigkeit der "Jungen Milden" nicht entziehen. Bis er eine Versammlung einberief, die sich offen gegen Otteni und Baucks aussprach und den Intendanten Thomas Langhoff zum Handeln zwang.

Brattia, der dem DT-Ensemble seit sechs Jahren angehört, zählt neben Nina Hoss zu den Hoffnungsträgern des nach künstlerischen Impulsen suchenden Theaters. Seine Hauptrollen - in "Edward II", "Minna von Barnhelm", "Othello" und demnächst "Don Karlos" - zeigen einen athletischen, scharfzüngigen und wendigen Schauspieler, dessen Vorliebe für manische Charakterzüge, für das Extreme und Haltlose, eine am Deutschen Theater und in Berlin insgesamt seltene Vitalität ausstrahlt. Die tiefere Ironie seines Auftritts als Theaterregisseur bestand freilich darin, dass er jetzt tatsächlich auch einer ist. Mit der Dramatisierung des letzten Romans von Ödön von Horváth, "Ein Kind unserer Zeit", gab er jüngst im Werkraum sein Debüt als Regisseur. Was als behutsame Übung eines Neulings geplant war, verwandelte sich nach dem Scheitern von Otteni und Baucks insgeheim in die Hoffnung auf einen Befreiungsschlag. Er sei, bekennt Brattia, in diesen "Kammer-Wahnsinn" reingerutscht. "Ich wollte weder das Experiment Kammerspiele noch das Deutsche Theater retten. Und ich hätte es auch gar nicht gekonnt."

Furie. Guntram Brattia in der Rolle des Telemach in Ithaka am Deutschen Theater 1997
Furie. Guntram Brattia in der Rolle des Telemach in Ithaka am Deutschen Theater 1997

© DT

An dem Stoff habe ihn das Ringen eines jungen Mannes um die eigene Identität gereizt. Dass er, arbeitslos, unter dem Eindruck der faschistischen Ideologie Zuflucht in der Armee sucht und das soldatische Kollektiv als seine Bestimmung verehrt, hält Brattia für ein "Merkmal unserer Zeit". Horváths Held sei "ein Bündel aus Sehnsucht, Kraft und Ambition, dessen Übersprungshandlungen und Zornausbrüche zugleich das Mal des Verlierers tragen." Die Hoffnungen des von Tom Quaas gespielten Soldaten werden grausam enttäuscht: Bei dem Versuch, seinen Hauptmann zu retten, wird ihm der Arm zerschossen. Der Krüppel muss erkennen, dass er sich für einen verbrecherischen Krieg begeistern ließ. Darüber zerbricht er und stirbt einen elenden Kältetod.

"Erst wenn den Leuten etwas passiert, beginnen sie nachzudenken"

"Ich habe Leute, die gedankenlos in solche Katastrophen stolpern, selbst erlebt", erzählt Brattia, "im Bundeswehrkrankenhaus". Dort war er eingeliefert worden, nachdem ihm während der Proben zu Musils "Die Schwärmer" durch eine Unachtsamkeit "fast der Arm amputiert" worden wäre. Er hatte - nicht minder gedankenlos - am Eisernen Vorhang gelehnt, als eine Kollegin durch die Brandschutztür abtrat und sie stürmisch hinter sich zuwarf. Die schwere Stahltür zerquetschte die Daumenkuppe seiner linken Hand. "Ich begriff nicht gleich, was passiert war. Ich bin abmarschiert, hatte die Schnauze voll. Mit der anderen Hand hielt ich den Daumen fest. Später bat ich den Assistenten, sich die Brandschutztür genau anzusehen. Ich wollte wissen, wie viel Luft war zwischen Tür und Rahmen, um meine Chancen abzuschätzen. Aber es war kein Spalt zu erkennen."

Ein zerschossener Arm, ein abgetrennter Daumen. "Erst wenn den Leuten etwas passiert, beginnen sie nachzudenken." Schon früher zog sich der gebürtige Tiroler manche Verletzung zu: Bänderrisse, Knochenbrüche oder einen Splitter im Auge - der Preis für eine physische Bühnenpräsenz, für die er sich oft halsbrecherisch mit seinem ganzen Körper verwendet. Als er 1994 von München ans Deutsche Theater wechselte, tat er das auch unter dem Eindruck, "zuviel geturnt" zu haben. Er wollte fortan "feiner und genauer" arbeiten. Mag sein, dass der Unfall seiner Unzufriedenheit mit der Arbeit an den Kammerspielen den Rest gab. Jedenfalls begann er umzudenken. Er verlor die Lust, sich als Schauspieler uneingeschränkt den Blicken des Publikums preiszugeben. Und er erinnerte sich, wie alles begonnen, warum er das alles einmal auf sich genommen hat, damals, in Innsbruck, wo er 1966 als Sohn eines Polizisten und Tennislehrers zur Welt kam: "Die wenigen Theater-Erlebnisse, die ich in meiner Jugend hatte, waren enttäuschend. Dann brannte ein Mädchen, in das ich mich verliebt hatte, mit einem Schauspieler durch und ich war fassungslos. Ich musste unbedingt wissen, was das ist: ein Schauspieler." Nach einer Ausbildung im Innsbrucker Kellertheater, fünf Jahren am Münchner Residenztheater und weiteren sechs am Deutschen Theater weiß er es. Und es reicht ihm nicht mehr.

Mit Ende der laufenden Spielzeit wird er das Ensemble verlassen. "Ich möchte mich nicht übernehmen lassen", sagt er dazu. "Ich kam zum DT unter Langhoff. Dessen Intendanz geht jetzt zu Ende. Wenn an diesem Theater eine neue Episode beginnt, möchte ich selbst von Neuem entscheiden." Dass er nicht nur im Theater Beschäftigung finden wird, sondern auch beim Film, hat ihm Rudolf Thomes "Paradiso" gezeigt, wo er neben Hanns Zischler vor der Kamera stand. "Als Tiroler", begründet er seine Zuversicht, "hast du stets das Bedürfnis, auf dem Gipfel stehen zu müssen. Als Kind hat mich allerdings immer geärgert, dass wir nicht nach der Hälfte, wenn es anstrengend wurde, umkehren durften."

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