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© DAVIDS/Huebner,

Deutsches Theater: Operation an der offenen Seele

Dimiter Gotscheff aktualisiert Tschechows „Krankenzimmer Nr. 6“ am Deutschen Theater.

Auf den ersten Blick könnte man die Psychiatriepatienten des „Krankenzimmers Nr. 6“ für eine Beamten-Yoga-Initiative aus Berlin-Prenzlauer Berg halten. Angeführt von einem engagierten Motivationscoach, den Samuel Finzi gewohnt großartig in der tragikomischen Grauzone ansiedelt, bewegt sich die Therapiegruppe unter fröhlichen Sonnengrüßen und tiefenentspannenden Gelenkschlenkereien aus der weißen Bühnentiefe langsam in Richtung Rampe.

Solcherart Animationssport wie in Dimiter Gotscheffs Inszenierung am Deutschen Theater wurde den Patienten in Anton Tschechows Erzählung aus dem Jahr 1892 freilich noch nicht zuteil. Im „Krankenzimmer Nr. 6“, der mit Abstand desaströsesten Station eines heruntergekommenen russischen Provinzkrankenhauses, hocken die entrechteten Nervenkranken wie in einem Gefängnis fest. Weil wir aber nicht erst seit Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“ um die Fragwürdigkeit von Kategorien wie „Norm“ und „Krankheit“ wissen, stößt bereits Tschechows Stationsarzt Dr. Ragin just in besagtem Krankenzimmer auf den einzigen intelligenten Menschen der ganzen Stadt: Gromow. Für den stoischen Arzt bekommen die Gespräche mit diesem leidgeprüften Illusionisten Suchtcharakter, bis Ragin selbst ins Krankenzimmer Nr. 6 eingewiesen und vom Wärter Nikita zu Tode geprügelt wird.

So weit Tschechow. In Dimiter Gotscheffs grandioser Inszenierung, für die Ivan Panteleev eine hochintelligente Stückfassung geschrieben hat, kann der Mediziner – ein pflichtbewusster Leser des Fachblattes „Arzt heute“ – den wissenschaftlichen Fortschritt gar nicht hymnisch genug loben: Kein Patient, doziert Finzi geboten salbungsvoll über seine Goldrandbrille hinweg, werde heutzutage mehr mit kalten Wassergüssen oder gar Zwangsjacken traktiert.

Was aber ist die Zwangsjacke gegen das „humanistische“ Fröhlichkeitsyoga, bei dem die Disziplinierung von außen umso effizienter ins Patienteninnere verlegt wird? Gotscheffs Krankenzimmerbelegschaft jedenfalls kann, in mehrerer Hinsicht, gar nichts Grauenvolleres passieren als dieser alberne Motivationssport. Denn der Clou an diesem Theaterabend besteht darin, dass sämtliche Patienten Figuren aus anderen Tschechow-Stücken oder -Erzählungen sind. Kurzum: In dieser Psychiatrie sitzen die unangefochtenen Lieblinge des modernen Theaters ein; all die an fehladressierten Lieben und schiefgegangenen Lebensplänen laborierenden Figuren, mit denen wir uns so unglaublich gern identifizieren!

Und wir? Hocken auf der Gegenseite: Dort, wo Margit Bendokat kurz vor Schluss im ersten Zuschauerrang als Chefprüferin für mentale Fitness auftauchen und Doktor Ragin in die geschlossene Anstalt ausmustern wird. Tatsächlich lässt Gotscheffs Inszenierung keine kuscheligen Vereinnahmungsschlupflöcher: In Katrin Bracks kongenialem Bühnenbild – einer Installation aus unzähligen Scheinwerfern, die die Krankenzimmerinsassen bis in den letzten Gesichtswinkel hinein verfolgen und ausleuchten – verweigert das erstklassige Ensemble mit seinem präzisen Minimalismus jedwede voreilige Kumpanei. Fast wirkt es, als wolle Gotscheff dem Theater diese Figuren zurückgeben, die sich während ihrer erfolgreichen Bühnenkarriere tatsächlich oft genug in realistischem Befindlichkeitskitsch aufzulösen drohten.

Und wie er das tut! Jeder ist im „Krankenzimmer Nr. 6“ mit sich und seiner Neurose allein: Die mühevoll gepanzerten Seelenwunden eignen sich eben nur sehr bedingt für kommunikative Transferleistungen. Almut Zilcher trägt die Biografie der Gutsbesitzerin Ranjewskaja aus dem abholzungsbedrohten „Kirschgarten“ mit sich herum; ergänzt um innere Konflikte der Erfolgsschauspielerin Arkadina aus der „Möwe“: Unglaublich, wie kitschfrei der Verlust des Sohnes immer wieder aus ihr hervorbricht. Katrin Wichmann wirkt dagegen erst einmal erfreulich ehelustig in ihrem brautkleidtauglichen Outfit – und kann dann doch nur Sonjas unerwidertes Liebestrauma aus „Onkel Wanja“ wieder- und wiederholen. Harald Baumgartners wortkarger Alter wiederum hat, wie Werschinin in den „Drei Schwestern“, offenbar zu spät gemerkt, dass er sich für die falsche Frau entschieden hat und Militärorden auch keine Lösung sind.

In diese dramatischen Leidensdiskurse hinein platziert Andreas Döhler wie einen unvorbereiteten Nackenschlag seinen knallharten Bericht von der „Insel Sachalin“: Die Pathosfreiheit, mit der Döhler in seinen erbärmlichen Kniehosen eine Massenhinrichtung rekapituliert, erwischt einen ebenso heftig wie Wolfram Koch, der dem Yoga-Arzt als intellektueller Sparringspartner Gromow dem Leid zum Trotz erstaunliche Illusionsreserven entgegenschleudert.

Von den krakenartigen Scheinwerfern abgesehen, werden die Insassen auch vom Wärter Nikita überwacht, den Margit Bendokat als stilechte Alptraumfigur von Horrorfilm-Gnaden anlegt: Ein großes Kind im hellblauen Frühlingskleid, das mit böser Lust die demütigenden Lebensumstände der Klinikinsassen herausplaudert und sich einen teuflischen Spaß daraus macht, der verschreckten Kirschgärtnerin alias Zilcher wiederholt „Abholzen, abholzen“ zuzuzischen.

Dimiter Gotscheff schließt mit diesem Wurf nicht nur nahtlos an seine grandiose „Iwanow“-Inszenierung von 2005 an, die nach wie vor in der Volksbühne läuft. Sondern sein kluger Tschechow-Kommentar stellt im Spielplan des Deutschen Theaters gleichzeitig eine ideale perspektivische Ergänzung zu Jürgen Goschs Tschechow-Inszenierungen dar, die – aus einer ganz anderen Richtung kommend – gleichermaßen (theater-)horizonterweiternde Sternstunden sind!

Nächste Aufführungen: 5., 7., 13. und

21. März

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