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Kultur: Die Akte und die Wahrheiten

Rosenholz, Gröllmann, Äthiopien: Wie man die Stasi-Unterlagen immer neu missverstehen kann

Von David Ensikat

Was für eine Enttäuschung. Die Stasi sei in Fraktionsstärke im Bundestag vertreten gewesen, so hatte es geheißen, und dann vermasselt die Birthler-Behörde die ganze Geschichte. Ja, in den Rosenholz- Dateien sind 48 Abgeordnete der 6. Legislaturperiode aufgeführt, als „IMA“ und „IMB“, doch das heiße nicht, dass sie allesamt „Inoffizielle Mitarbeiter“ waren. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne.

Die Akten. Es scheint so einfach zu sein, hier die Opfer, da die Täter, dazwischen viel Papier, das die einen von den anderen scheidet. Wer im Besitz der Papiere ist, ist der Wahrheit nah. Drei Beispiele jenseits von Rosenholz zeigen, wie schwierig das Einfache noch immer ist, und wie leicht es fällt, in bester Absicht Irrtümer zu begehen. Die Beispiele sind gewiss nicht repräsentativ, alles Sonderfälle. Doch welche Akte ist kein Sonderfall?

Fall eins, die Akte „IM Jeanne“, er ist inzwischen bekannt. Den Decknamen „Jeanne“ hatte die Stasi der am vergangenen Mittwoch verstorbenen Schauspielerin Jenny Gröllmann gegeben. Die Akte wurde zehn Jahre lang geführt. Zwölf Jahre, nachdem sie geschlossen wurde, haben Journalisten geschrieben, was laut Akte offensichtlich schien: Jenny Gröllmann war IM. Fünf Jahre darauf wiederum hat das Berliner Landgericht diese Behauptung verboten.

Es war zunächst eine dieser Geschichten, wie sie immer wieder in den Zeitungen stehen. Der Leser denkt sich: „Ah ja, mal wieder das.“ Dann vergisst er es. Als Ende letzten Jahres die Geschichte noch mal hochkam, bat Jenny Gröllmann ihre Anwälte zu reagieren. Die Akte „IM Jeanne“ machte die Runde durch die Redaktionen, der Führungsoffizier wurde befragt, SED-Forscher ebenso, alles für die Öffentlichkeit und die Gerichte.

Ausgelöst hat die neue Behandlung des Falls Jenny Gröllmann ihr Exmann Ulrich Mühe, der Schauspieler, der im Film „Das Leben der Anderen“ den Stasi-Sauluspaulus spielt. In einem Interview für das Buch zum Film sagte er, seine damalige Frau habe ohne sein Wissen „die ganze Zeit über bei der Staatssicherheit als IM gearbeitet“. Laut Akte hat „IM Jeanne“ 1979 bis 1984 Informationen geliefert, erst danach war Jenny Gröllmann mit Ulrich Mühe zusammen. Um ihn geht es in der Akte an keiner Stelle. Was aber in der Öffentlichkeit ankam, war die Botschaft: Die hat ihn die ganze Zeit lang mit der Stasi betrogen.

Vor Gericht ging es um die Frage: War sie überhaupt IM? Die Akte ist gut 500 Seiten dick, Berichte über 25 Treffen, Tonbandabschriften, doch keine Verpflichtungserklärung, nichts Handschriftliches von Gröllmann. Die Birthler-Behörde meint dennoch: Sie war IM. Sie muss das gewollt und gewusst haben. Das mit dem Wollen und Wissen ist wichtig; nur dann, so die Behördenchefin Marianne Birthler, werden IM-Akten herausgegeben.

Jenny Gröllmann sagte, die Akten würden lügen. Sie habe nie geahnt, dass sie der Stasi als IM gedient habe. Und der Führungsoffizier, der Aktenautor, sagt, sie habe recht, die Stasi habe sich Jenny Gröllmann nie zu erkennen gegeben. Dazu kommen Ungereimtheiten: Einige der Informationstreffen können gar nicht zu dem Zeitpunkt stattgefunden haben, wie in der Akte vermerkt, denn da stand Gröllmann auf der Bühne des Theaters. Ein „Zielobjekt“, über das sie Informationen geliefert haben soll, hat sie nie kennengelernt. Das bezeugt der angeblich Beobachtete selbst. Ein anderer sagt, er habe sie sehr gut gekannt. Das, was sie über ihn verraten haben soll, habe er aber bestimmt nicht ihr erzählt. Das muss auf anderem Weg in ihre Akte gelangt sein.

Birthler-Behörde und FU-Forscher sagen: Dass eine so große Akte ohne die tätige Mitwirkung des IM entstand, so etwas gab es nicht. Aber die Zweifel, die Unstimmigkeiten, die nicht sie gefunden haben, sondern andere, gibt es doch. So urteilte zunächst auch das Gericht: Niemand darf behaupten, Jenny Gröllmann sei wissentlich und willentlich IM gewesen. Wir kennen die Wahrheit nicht, doch das Urteil entspricht einem guten Grundsatz bürgerlicher Rechtsprechung: im Zweifel für den Angeklagten. Es geht nicht um einen generell restriktiveren Umgang mit den Akten. Es ist ein Glück, dass sich eine Behörde nach Gesetzesvorgaben um ihre Herausgabe kümmert. Doch wer erwartet, allein in einer Akte die Wahrheit über Gut und Böse zu finden, irrt.

Fall zwei, die Akte eines Mannes, der anonym bleiben möchte. Auch er hat fürs DDR-Theater gearbeitet, auch er wurde von der Stasi als IM geführt. Genau genommen hat er zwei Akten, eine als Informant – die Aktenbehörde nennt sie „Täterakte“ – und eine als Informationsobjekt, die „Opferakte“. Nach heutigen Maßstäben ist seine „Täterakte“ ehrenwerter als seine „Opferakte“. Denn als IM hat er nicht viel getaugt, das attestieren die Unterlagen. Unzuverlässig, bar des klaren Klassenstandpunktes, allein willens, übers Theater, doch niemals über Leute zu sprechen. Eine Null an der unsichtbaren Front! Dagegen die Akte des „Opfers“: Da charakterisiert ein anderer IM, ihn offensichtlich schützen wollend, den Mann als staatstreu und allem Sozialistischen gegenüber aufgeschlossen. Sie konnten ja nicht wissen, dass es mal andersrum kommen würde.

Der Mann ist ehemaliger IM, die „Täterakte“ lässt da keinen Zweifel. Wer sagt: „Der war IM“, würde nicht lügen. Nur behauptete er nach weitverbreitetem Verständnis damit auch: „Der war ein Schuft.“ Und das wäre eine Lüge. Befragt, warum er nicht an die Öffentlichkeit tritt, sagt er: „Weil ich sofort in der Verteidigungsposition wäre. Das Urteil wäre schon gefällt, sobald der Begriff ,IM‘ fiele. Und ich stünde da wie einer, der sich hinauswinden will.“

Fall drei, die Äthiopien-Akten. Vor kurzem erschien ein Roman, in dem unter anderem die Geschichte eines Äthiopiers erzählt wird. Es gibt ihn wirklich, er wurde 1977, zur Zeit des sogenannten „Roten Terrors“, eingesperrt und gefoltert. Zu jener Zeit waren in Äthiopien Berater aus der DDR zugegen. Es gab Gerüchte darüber, was sie taten. Mehr als die Gerüchte kannte und kennt der echte Äthiopier nicht. Auch der Romanautor Ulrich Schmid weiß nichts Konkretes. In „Aschemenschen“ schreibt er über Stasi-Leute, die bei den Folterungen des Äthiopiers zugegen waren und sie überwachten. Er hat sich das ausgedacht, künstlerische Freiheit. Im Nachwort allerdings schreibt er, dass man die Stasi- Verstrickungen in den „Roten Terror“ aufdecken und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen müsse. Während der Terror- Monate des kommunistischen Regimes sind Tausende ums Leben gekommen.

Der Journalist denkt: Die Akten werden das Unheil belegen. Er stellt Antrag auf Akteneinsicht – und ist nicht der Erste. Eine Kollegin vom Fernsehen ist auch schon an der Sache. Nach zwei Wochen sind die Akten da, ein Ordnerstapel, tausend Seiten vielleicht. Doch darin ist nicht von Folterkellern die Rede, nicht von Toten. Nicht mal von Verhören oder Anweisungen für äthiopische Vernehmer. Klar ist: Es gab eine Zusammenarbeit, die Stasi half den Äthiopiern, einen eigenen Geheimdienst aufzubauen. Ende 1977 kamen zwei erste Stasi-Delegationen ins Land. Es gibt Lieferlisten über Kriegsgerät, auch über Handschellen und Knebel, die vor allem aus den achtziger Jahren stammen. Der „Rote Terror“ währte von 1977 bis 1978.

Das alles war lange bekannt. In der Fachliteratur kann man über das militärische Engagement der DDR in Äthiopien lesen. Dass Stasi-Leute vor Ort waren, kaum mehr als ein Dutzend, meistens deutlich weniger, auch das war bekannt. Was sie tatsächlich dort getan haben – es steht nicht in der Literatur und auch nicht in den Akten. Jedenfalls nicht in den bisher gefundenen. Nichts Neues also, nichts Belegbares. Nur ein Roman und Gerüchte. Kein Stoff für eine Zeitungsgeschichte.

Die Kollegin vom Fernsehen hat trotzdem einen Bericht gemacht. Er lief in der Sendung „Kulturzeit“ auf 3Sat. Dort hieß es, neue Aktenfunde gäben „Hinweise, dass die Stasi den Roten Terror maßgeblich angeleitet“ habe. Entweder die Kollegin hat die Hinweise aus der Birthler-Behörde rausgeschmuggelt, oder es gibt sie nicht, jedenfalls nicht in diesen Akten.

Journalisten müssen zuspitzen. Wenn die zwanzigste Geschichte über IM-Spitzeleien durch ist, darf’s auch gerne der stärkere Tobak sein. Die belegbaren Waffen- und Knebellieferungen? Ja, ja, schon schlimm, aber damit war die DDR ja nicht allein. Was die Akten nicht hergeben, muss man sich also dazufantasieren: Wer tausende Knebel liefert, der wird doch wohl auch gezeigt haben, wie man damit tausende Leute erstickt.

Die Militärpolitik der DDR in Äthiopien war ein Verbrechen, kein Zweifel. Aber darum ging es hier nicht. Hier ging es um was viel Interessanteres: die Stasi. Und um ihre tollen Akten.

Hauptsache, wir haben eine Akte und also einen Täter. Der ist bös, und wir sind gut.

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