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Kultur: Die Aufbau-Deutschen

Ihr seid Jecke, ich bin Jecke: Das Berliner Centrum Judaicum feiert die Pioniere des Staates Israel

Warum emigriert ein Berliner nach Palästina? Verrückt oder Jude ist Rudi Lehmann keineswegs. Als Kind wurde er rumgestoßen. In der gebildeten Zionistin Hedwig Grossmann findet er die mütterliche Retterin. Sie ist Tochter eines Schokofabrikanten. Er ist schüchtern, kommt von ganz unten. 1933 geht der Bildhauer mit ihr nach Palästina. Während des Weltkriegs internieren ihn die Briten. Hedwig wird eine berühmte Keramikerin. „Verlobung“ heißt Rudis Mahagoni-Skulptur von 1950: Die Lippen der ernsten Nackten sind zusammengepresst. Geheiratet haben die schwierigen Partner nie. Das hölzerne Paar steht in der „Jeckes“-Ausstellung des Centrum Judaicum, die morgen eröffnet.

Jeckes kommt von Jacke; hat vielleicht mit Geck oder Jeck zu tun. Als die Deutschen in Palästina ankommen, laufen viele trotz Hitze mit Schlips und Sakko herum. Osteuropäer erfinden für diesen Typ, der auf Ordnung, Disziplin und höfliches Hochdeutsch setzt, den jiddischen Spott-Begriff. Jeckes halten fest an ihren Zwangsjacken. Rudi und Hedwig, so heißt es in Helga Kellers zur Ausstellung erschienenen Biografie „Kunstpioniere in Eretz Israel“, seien mit ihrer gewissenhaften Arbeitsmoral und Gründlichkeit Jeckes „im wahrsten Sinne des Wortes“.

Den Eingang zur Ausstellung bildet ein Raum der Kunst für Rudis Tiere und Menschen aus Holz, Gips, Kalkstein, Epoxidharz. Das größte Objekt im Saal sind jedoch zwei Kautschukmatten aus dem Museum der deutschsprachigen Juden in Tefen/Israel. Penny Yassours Arbeit (1996) zeigt zwei Mal, richtig und spiegelverkehrt, eine „Railway map, Germany 1938“. Wer den Kopf dreht, sieht von hier aus quer durch den zweiten Saal bis zu dem Fenster, vor dem die Namen der ermordeten Berliner Juden installiert sind. Hinterm Fenster erstreckt sich der Hof, das leere Terrain der zerstörten, 1865 im orientalisierenden Stil als Zeichen für die Emanzipation des deutschen Judentums erbauten Neuen Synagoge. Zwischen den Kautschukmatten und der Wand der Deportierten also: die Präsentation der Jeckes – jener Spezies, die an eine Welt funktionierender Fahrpläne glaubt. Unter dem Schienennetz steht: „The Irrationality of Rationality itself“.

Diese „Jeckes“-Schau enttäuscht den, der Witze über Sekundärtugenden erwartet hat. Entstanden ist sie im Museum von Tefem. Es sei in Israel aus der Mode, die Aufbau-Deutschen als Witzfiguren abzutun, sagt die Kuratorin Chana Schütz. Viele Jeckes-Kinder seien erfolgreich, es gehöre zum guten Ton, solche Vorfahren zu haben. Immerhin ist in einem Film der komische Dialog des Knickerbocker-Papas mit seinem entsetzten Lederhosen-Filius über den unentrinnbaren Wüstensand zu sehen; und der Bericht über die deutsche Siedlung Narhariah samt ihrer selbstironischen „Nahariade“-Revue, mit Beethoven- und Puccini-Klängen. Ein Bildungsbürger aus dem Land des kategorischen Imperativs identifiziert sich mit dem System als solchem: „Ihr seid Jecke, ich bin Jecke / Sagt wie ich die Schulden decke / Ich beachte die Gesetze / Schon weil ich mich selber schätze“.

Die Text- und Fotobanner im zweiten Saal geben Nachhilfe in politischer Bildung: über eine mitteleuropäische Enklave im Orient und die Begründer ihres Erfolges. 2000 deutsche Juden waren vor 1933 eingewandert, 60000 folgten in den Jahren danach. „Kommst du aus Überzeugung – oder aus Deutschland?“ Zionistische Jeckes leiden an dem Zwiespalt zwischen deutscher Kultur und ideologischem Bestimmungsort. In Wirtschaft und Rechtsprechung prägen sie Israel. 130 Architekten aus Mitteleuropa, Tel Aviv wird zur Bauhaus-Stadt. Das israelische Abitur ist kompatibel mit dem deutschen. 75 Prozent der jüdischen Ärzte in Deutschland emigrieren nach Palästina, modernisieren das Gesundheitswesen.

Dialektik der Integration: Sonderlinge werden Gründungsapostel. Sehnsucht nach dem Verlorenen artikuliert sich zwischen Lebensbrüchen und Kontinuität: „Ich fühle mich durchaus als Israeli. Im Grund, im tiefsten Grund bin ich natürlich ein Deutscher.“ Ein Haushaltsbuch – begonnen in Berlin, beendet in Tel Aviv – erfasst die Realität buchhalterisch: „Januar 1911: Hausschuhe 4,50. Kleid repariert 16,-. Sonntagsvergnügen 15,-. Mädchen Gehalt 20,-.“ – „Januar 1939: Fahrgeld T(el) A(viv) 0,200. Zoo f. Paket 0,400. Sardellenpaste 0,025.“ – „Dezember 1968: Gasoline 117.30. Caffee etc. 6,-.“ Die Mitteilungsgazette mitteleuropäischer Einwanderer annonciert 1940 ein Putzmittel, das ausländischen Produkten überlegen sei: „Jüdische Hausfrau, verwende in Deinem Hause nur diese jüdischen Erzeugnisse, es gibt keine besseren!“ Der patriotische Sound markiert den Schulterschluss der Bedrängten; selbst Rudi, der Wahl-Israeli, wird 1967, angesichts des Sechs-Tage- Kriegs, militaristischen Fantasien Ausdruck verleihen.

Im Hin- und Hergerissensein der Jackenträger zwischen deutscher, jüdischer oder israelischer Selbstdefinition zeichnen sich Identitätskonflikte eines säkularen „jüdischen Staates“ ab, der Frommen und Ungläubigen ebenso Heimat sein soll wie arabischen Bürgern. Zur Jeckes-Geschichte gehört ja, neben dem Glauben an Fahrpläne, auch das universalistische Erbe der Moderne, die Gründung von Brith Shalom 1926: als deutschstämmige Professoren der Hebräischen Universität in Jerusalem einen jüdisch-arabischen Staat propagierten. Ach, die Jeckes. Dafür haben sie von allen Seiten eins aufs Dach gekriegt. Dialektik der Heilsgeschichte: Verrückte von gestern sind unsere Helden von morgen.

Oranienburger Str. 28/30, bis 31.12., So-Mo 10–20, Di-Do 10–18, Fr 10–17 Uhr.

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