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Kultur: Die Auflösung des Blicks

Als sich 1974 lange Besucherschlangen vor der Hamburger Kunsthalle bildeten, galt der Andrang einem Maler des 19.Jahrhunderts, Caspar David Friedrich.

Als sich 1974 lange Besucherschlangen vor der Hamburger Kunsthalle bildeten, galt der Andrang einem Maler des 19.Jahrhunderts, Caspar David Friedrich.Er galt darüber hinaus einem neuen Typ von Ausstellung, der nicht nur Kunstwerke aufreihte, sondern zugleich den geistesgeschichtlichen Zusammenhang sichtbar machte."Kunst um 1800" hieß der Zyklus von Ausstellungen, mit dem die Hamburger Kunsthalle eine Reihe von Jahren lang die intellektuelle Spitzenposition unter den deutschen Museen einnahm.Ihr Leiter: Werner Hofmann.

Der gebürtige Wiener des Jahrgangs 1928 war 1969 an die Alster gekommen, nachdem er zuvor ein rundes Jahrzehnt lang seiner Heimatstadt die moderne Kunst in dem eigens errichteten "Museum des 20.Jahrhunderts" nahegebracht hatte.In Hamburg wandte er sich wieder demjenigen Säkulum zu, mit dessen Betrachtung er sich frühen Ruhm erworben hatte.Sein 1960 erschienenes Buch "Das irdische Paradies.Motive und Ideen des 19.Jahrhunderts" leitete die Neubewertung einer Kunstepoche ein, die dem Siegeszug der modernen, mithin abstrakten Kunst vollständig zum Opfer gefallen zu sein schien.

Das Buch zählt zu den Standardwerken der Kunstgeschichtsschreibung.Es handelt sich nicht eigentlich um Kunsthistorie; vielmehr um einen aus stupendem Wissen geschöpften Überblick, der die bewußten Handlungen der Künstler ebenso umschließt wie die unbewußten Strömungen und Sehnsüchte des Jahrhunderts.In Hamburg gelang es Hofmann, diesen panoramatischen Ansatz in Gestalt von Ausstellungen fortzuführen, ehe er sich - wohl auch der Leitung eines Museums unter wirtschaftlichen Restriktionen etwas müde geworden - nach der Aufgabe des Hamburger Amtes 1990 wieder ganz der Wissenschaft widmen konnte.Ohnehin war er immer wieder mit Publikationen hervorgetreten, hinzu kam eine zunehmende Tätigkeit als Gastprofessor renommierter Universitäten.

Das bisherige Ergebnis des Unruhestands sind zwei Bücher, die nahtlos an den frühen Geniestreich anknüpfen.Seine früh schon geäußerte Ansicht, die Moderne sei nicht die Hervorbringung linearer Entwicklung, sondern die Rückkehr zu jahrhundertealten Sichtweisen, expliziert Hofmann in seinem Überblick über die Zeit zwischen 1750 und 1830 an Hauptfiguren, die selten genug zusammen gesehen worden sind, vom Klassizisten David bis zum Romantiker Blake, von Turner über Friedrich bis Goya.Es ist das scheinbar disparate Personal seiner Hamburger Ausstellungsreihe.Der Titel des monumentalen Buches zieht sich geradezu leitmotivisch durch Hofmanns Untersuchungen: "Das entzweite Jahrhundert".

Die herkömmlichen Schubladeneinteilungen interessieren Hofmann nicht.Er legt statt dessen den ungeheuren Bruch frei, der sich im Laufe des 18.Jahrhunderts ankündigt und in der Epochenwende der Revolutionszeit grundstürzend durchsetzt."Desintegration" - so ein Schlüsselbegriff - führt zur Mehrsichtigkeit: An die Stelle des Guckkastenbildes, das als Hauptleistung der Renaissance für Jahrhunderte verbindlich wurde, tritt eine zunehmende Unbestimmtheit, die das Kunstwerk zuallererst aus seiner Abbildfunktion befreit.

So wie Hofmann 1983 in seiner wohl anspruchsvollsten Ausstellung, "Luther und die Folgen für die Kunst", die Ursprünge der Moderne ausgerechnet auf den protestantischen Bildverächter Luther zurückführte, sieht er in der Umbruchszeit um 1800 allerorts Rückgriffe auf vormoderne, ja mittelalterliche Sicht- und Ausdrucksweisen.Die Einförmigkeit der zentralperspektivischen und auch technisch ganz auf das Tafelbild beschränkten Malerei löst sich allmählich auf in "Polyfokalität" und "Multimaterialität".Was derart theorielastig klingt, weiß Hofmann - in seinen Veröffentlichungen wie in seinen Ausstellungen - immer wieder überzeugend an oftmals überraschenden, nicht zum gängigen Bildervorrat zählenden Kunstwerken zu zeigen.

Es lag für Hofmann nahe, seine Befunde in die Moderne und darüber hinaus in die Gegenwart hineinzutragen.So ist denn das jüngste Buch über "Die Moderne im Rückspiegel" ein glänzender Erweis der Tragfähigkeit seiner Thesen, die er an der kubistischen Collage ebenso wie an der land art überprüft.Das 20.Jahrhundert zeigt sich ihm - mit einer Kapitelüberschrift seines jüngsten Buches - als "Triumph der Mehransichtigkeit".Vielleicht übersieht der heutige Leser die Sprengkraft solcher Erkenntnisse, weil die Zersplitterung der Kunst so weit vorangeschritten ist.Die Postmoderne hat den linearen Entwicklungsgang erledigt.Werner Hofmann, der heute seinen 70.Geburtstag feiert, liefert Hinweise, wie die verwirrende Vielfalt der zeitgenössischen Kunst verstanden und historisch begründet werden kann.Unter den Kunsthistorikern, zu deren Profession er ungeachtet seiner Lehrtätigkeit innerlich Distanz gehalten hat, ist Hofmann der souveräne Einzelgänger.

Die jüngsten Veröffentlichungen Werner Hofmanns sind erschienen im Verlag C.H.Beck, München: Das entzweite Jahrhundert.Kunst zwischen 1750 und 1830 (1995; 720 S., geb.298 DM); Die Moderne im Rückspiegel.Hauptwege der Kunstgeschichte (1998; 399 S., geb.78 DM).

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