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Kultur: Die Aura der Musik

Es gibt Künstler, die ihre Geheimnisse an der Oberfläche verbergen.Sie setzen klare Zeichen, die ihre Bedeutung nicht preisgeben, und folgen einer präzisen Dramaturgie, deren Drama sich nicht greifen lässt.

Es gibt Künstler, die ihre Geheimnisse an der Oberfläche verbergen.Sie setzen klare Zeichen, die ihre Bedeutung nicht preisgeben, und folgen einer präzisen Dramaturgie, deren Drama sich nicht greifen lässt.Gil Shaham ist so ein Künstler.Der 28jährige israelisch-amerikanische Geiger gibt die Aura der Musik und überläßt die Interpretation dem Hörer.Im Kammermusiksaal der Philharmonie war dieser faszinierende Drahtseilakt wieder zu verfolgen.Am frappierendsten vielleicht im Scherzo der F.A.E.-Sonate.Aus wenigen Tönen formt Brahms dort eine Überleitung, die Shaham, immer leiser, immer vorsichtiger, mit einer Erwartung spannt, die weit über die dann folgende Reprise des Themas hinausschießt.Wohin? fragt man sich unwillkürlich.Und hier läßt Shaham, der all das mit einer unvergleichlichen Leichtigkeit in Schwebe gehalten hatte, den Hörer mit seinen Ahnungen allein.

Wie genau Shaham den Aufbau eines Werkes plant, ließ Prokofjews f-Moll-Sonate op.80 mit ihrer weit ausgreifenden Architektur erkennen.Der nach dem Gesetz des Kontrastes abwechselnd lyrische und energische Charakter der aufeinander folgenden Sätze trat so plastisch hervor, daß die Logik der großen Form ihren bezwingenden Sog entfalten konnte.In diesen Grundriß paßte sich die virtuose Feinarbeit ein, die bei Shaham reich an Zwischentönen ist: die Technik des Portamentos, des hochgezogenen Tones, ein an sich unmögliches Stilmittel, von tausenden von Zigeuner- und Tanzkapellen zum triefenden Schluchzer verkitscht, von Shaham in seiner ursprünglichen Reinheit rehabilitiert; das messa di voce, die organisch an- und abschwellende, atmende Phrase, die ihren aus der alten Belcanto-Technik stammenden sinnlichen Zauber entfaltete; die zahllosen Farbstufen vom Piano bis zum Pianissimo, die die hauchfeinen Umspielungen des dem Klavier übertragenen Seitenthemas im ersten Satz in eine glissandierende Stimmungslandschaft verwandelten; schließlich das mit äußerster Delikatesse behandelte Vibrato, das nicht ganze Werke unter Wasser setzt, sondern - besonders deutlich in Schumanns a-Moll-Sonate op.105 - recht eigentlich das Geheimnis von Shahams schmelzendem Klang ausmacht.Daß der junge Geiger in Akira Eguchi einen Mitgestalter am Flügel gefunden hatte, der auf seine Klangvorstellungen aus voller Überzeugung einzugehen vermochte, bewirkte einmal mehr einen lange nachwirkenden Abend.

BORIS KEHRMANN

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