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Kultur: Die ausgesungenen Wälder

Urwüchsigkeit oder melancholisches Dandytum - das war einmal.Die skandinavische Literatur der Gegenwart präsentiert sich bei der Münchner Frühjahrsbuchwoche als urban und dem Westen zugeneigtVON TILMAN KRAUSE"Und ewig singen die Wälder": Das war einmal.

Urwüchsigkeit oder melancholisches Dandytum - das war einmal.Die skandinavische Literatur der Gegenwart präsentiert sich bei der Münchner Frühjahrsbuchwoche als urban und dem Westen zugeneigtVON TILMAN KRAUSE"Und ewig singen die Wälder": Das war einmal.War es überhaupt jemals? Hat jenes deutsche Skandinavienbild, das so gern Zuflucht sucht bei Trygve Gulbrassens gleichnamigem Roman von 1933 und das um Naturburschen kreist, die unter hellen Himmeln durch die Fjorde stapfen, dabei düsteren Gedanken nachhängend, die ihnen erbitterte Familienfehden eingeben, von denen sie sich nur durch reines Quellwasser und herzhaftes Knäckebrot erholen können - hat dieses deutsche Bild vom europäischen Norden überhaupt jemals gestimmt? Andererseits, wenn es nicht gestimmt hat, waren die Stereotypen unserer Wahrnehmung im Hinblick auf "nordisches Wesen" und nordische Literatur mit ihrer Reinheit, Ursprünglichkeit und Naturverbundenheit nicht unter Umständen der Rezeption vor allem während der großen Skandinavienmode im ersten Drittel unseres Jahrhunderts außerordentlich förderlich? Diese Fragen standen im Zentrum der Podiumsdiskussion "Der Norden - eine Fiktion?", mit der nicht von ungefähr in München die Internationale Frühjahrsbuchwoche eröffnet wurde, die nun am Sonntag zu Ende geht. Daß der Länderschwerpunkt diesmal Skandinavien hieß, hat seine Gründe.Literatur aus Schweden, Norwegen und Dänemark, inzwischen auch aus Island und Finnland hat gerade in Deutschland augenblicklich Konjunktur.Peter Hoeg und Jostein Gaarder verfügen über Bestseller-Auflagen, neue Bücher von Lars Gustafsson und Per Olov Enquist werden mit derselben Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen, die sonst nur noch angelsächsischen Autoren zuteil wird.Selbst die junge Generation, wie sie beispielsweise von Solveig Balle verkörpert wird, und noch die schwierige "Systemlyrikerin" Inger Christensen sind auf dem deutschen Buchmarkt in einer Weise präsent, daß man fast von einer zweiten Blüte der deutsch-skandinavischen Kulturbeziehungen sprechen könnte, auch wenn ihr Ausmaß nicht an die erste heranreicht. Seine Generation habe etwa Georg Brandes oder Jens Peter Jacobsen gelesen, "als ob es die unsrigen seien", schrieb in den fünfziger Jahren der 1893 geborene Literaturkritiker Friedrich Sieburg.Thomas Mann zufolge stand den Deutschen noch 1918 das "schmerzliche Werk" Herman Bangs näher als das von Theodor Fontane.Als Carl Theodor Dreyer 1924 Bangs Künstlerroman "Michael" verfilmte, kam prompt ein Kassenschlager dabei heraus.Und Rilke lernte bekanntlich dänisch, um Jacobsens "Niels Lyhne" im Original lesen zu können, jenes Porträt eines feinnervigen Seelenästheten, vor dem Rilke selbst sich dann mit seinem "Malte Laurids Brigge" verbeugte. Doch wie gesagt: Urwüchsigkeit, Verbundenheit mit der Scholle oder andererseits melancholische Dandys und Décadents - das war einmal.Die skandinavische Literatur, wie sie sich jetzt in München mit über dreißig Schriftstellerinnen und Schriftstellern präsentiert, unter denen - was dem Überblick zugute kommt! - die ganz großen Namen fehlen, die skandinavische Literatur von heute also ist eine urbane Literatur geworden - oder hat doch den städtisch-gesellschaftskritischen Traditionsstrang, den es im Norden ja immer gegeben hat - man denke nur an Bangs bahnbrechendes Gründerzeitepos "Stuck" - weitergeführt und verstärkt. Am deutlichsten ist diese Linie vielleicht bei Peer Hultberg spürbar, der in seinem ehrgeizigen Projekt "Die Stadt und die Welt" die ganze Stimmenvielfalt einer jütländischen Provinzstadt kaleidoskopartig aufleben läßt.Mit der Öffnung gegenüber westlichen, hier vor allem amerikanischen Einflüssen verbindet sich der urbane Charakter in Monika Fagerholms "Wunderbare Frauen am Wasser", einem Generationenroman über den finnischen Aufbruch in den sechziger Jahren, oder in der "Insel"-Trilogie des Isländers Einar Kárason. Und selbst wenn die Autoren sich bei lokalen Motiven bedienen, wie es etwa der Schwede Torgny Lindgren in seiner aphoristisch aufgelösten, legendenhaft angelegten Prosa tut, dann geschieht das nicht der Sinn- oder Identitätsstiftung wegen, sondern um folkloristische Stoffe und Erzählweisen ironisch als Spielmaterial zu nutzen.Lindgren ist es auch, der am ausdrücklichsten einen Zug verkörpert, der sich zumindest in der mittleren Generation bei näherem Hinschauen als dominierend erweist: ein Literaturbegriff, den man vielleicht am besten als artistisch charakterisiert: "Sinn und Zweck des Schreibens war das Schreiben", legt Lindgren einer seiner Figuren in den Mund und bestätigt auf Nachfrage, daß auch er sich an dieses Motto gebunden fühlt.Lust am eigenen handwerklichen Können, Spaß am Verfertigen von komplizierten und fintenreichen Kompositionen, die gleichwohl den Leser unterhalten sollen: darauf habe er es abgesehen, nicht auf Botschaften, seien sie nun politischer oder weltanschaulicher Art. Diese Haltung kam auch bei der wie fast alle Veranstaltungen überraschend gut besuchten Diskussion zum Ausdruck, die sich mit dem dreistündigen Hamsun-Film von Jan Troell befaßte, der hier in München nach seiner Präsentation auf den "Nordischen Filmtagen" in Lübeck zum zweiten Mal in Deutschland gezeigt wurde.Das Drehbuch verfaßte Per Olov Enquist nach der biographie romancée von Tjorkild Hansen.Enquist sagte nun, er habe "ein leidenschaftlich objektives Drehbuch schreiben wollen über eine Familientragödie".Wie das? Das Leben des Literaturnobelpreisträgers von 1920 und späteren Nazi-Kollaborateurs Knut Hamsun - und eine "Familentragödie"? Das "Trauma" Hamsun, das seit nunmehr fast sechzig Jahren vor allem die norwegische Öffentlichkeit beschäftigt, wird vom Drehbuchautor und Regisseur in einer für deutsche Verhältnisse nahezu unfaßbar sachlichen Weise verarbeitet: Keine Beschönigung, aber auch keine Verdammung, kein Aufrechnen von künstlerischer Qualität gegen politische Verblendung, sondern ein Bestehenlassen von Widersprüchen zeichnet dieses Hamsun-Bild aus - "Wir alle haben viele Gesichter", sagt Max von Sydow als verurteilter Vaterlandsverräter Hamsun in seiner großen Verteidigungsrede vor Gericht."Interessant ist nicht mehr: War er Nazi, sondern warum war er Nazi", erläutert Enquist weiter seinen Ansatz. Die Frage löst er, indem er Denken und Schreiben Hamsuns aus seiner familiären Konstellation zu erklären versucht.Dabei rückt der "Geschlechterkrieg" zwischen Knut und seiner Frau Marie immer mehr in den Mittelpunkt.Die filmische Handlung, die ausschließlich den späten Hamsun der dreißiger bis fünfziger Jahre zeigt, wird schließlich, ganz wie in Ibsens analytischem Drama, als Produkt einer verdrängten konfliktreichen Vergangenheit inszeniert.Das mag den einen an Strindberg erinnern, den anderen an Bergman oder Lars Norén: Entscheidend ist der Rückgriff auf ein (nun doch typisch nordisches?) literarisches Muster, mit dem die größtmögliche Dramatik, Spannung, Publikumswirksamkeit der zu erzählenden Geschichte garantiert ist.Damit erweist sich auch der Hamsun-Film, gewissermaßen das Herzstück der Münchner Literaturwoche, der die deutsche Öffentlichkeit mit einiger Sicherheit polarisieren wird, als Werk, das nicht belehren und bewältigen, sondern mit etwas konfrontieren will, das im deutschen Terror der Begriffe gern verschwindet: der verwirrenden Vielfalt dessen, was Menschsein heißt.

TILMAN KRAUSE

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