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Kultur: Die Bärte der Affen

Afghanistan, so nah: Khaled Hosseinis Roman „Drachenläufer“

Wir haben zu wenig Worte für zu viele Dinge. Es gibt eine Befangenheit, die zugleich Abwehr ist gegenüber den Kulturen, die das Individuum nicht kennen. Bloß die Simplen nennen diese Reserve schon Ausländerfeindlichkeit. Aber eine Gefahr liegt doch darin, wenn die Fremden fremd bleiben. Zuletzt: gesichtslos. Nur welches Gesicht, das wir begreifen könnten, sollen Männer bekommen, die nichts sind als Träger von „Nang“ und „Naamos“? Mehr braucht ein paschtunischer Mann nicht: Ehre und Stolz. Und wie nah sind uns Mütter, die eine einzige große Lebenssorge kennen: dass ihre Tochter ohne Mann bleiben könnte. „Jede Frau braucht einen Ehemann. Selbst wenn er die Lieder in ihr zum Verstummen brachte.“ Man glaubt, keine Luft zu bekommen in Nang-und-Naamos-Welten und atmet doch irgendwann so selbstverständlich in ihnen, als hätte man nie woanders gelebt. Jedenfalls 415 Seiten lang.

Wunder dieser Art bewirkt nur die Literatur. Und da Romane länger dauern als Filme, kann es schon sein, dass man in dieses 60er-70er-Jahre-Kabul schneller einzieht, als man merkt. Einen Ort kennen, wie er früher war, seine Straßen und Viertel; in seinem zerstörten Heute noch seine Vergangenheit sehen – was ist Vertrautheit anderes?

Khaled Hosseini, 1965 geboren in Kabul, heute Arzt in Kalifornien, hat seinen ersten Roman geschrieben. „Drachenläufer“ erscheint zeitgleich in zwölf Ländern. Also wird man bald in zwölf Ländern „Baba“, den Paschtunen, kennen, auch er hauptberuflich Träger von Nang und Naamos, zugleich leidenschaftlicher Whiskeytrinker und Gottloser. Mit Sätzen wie: „Man sollte auf die Bärte dieser ganzen selbstgerechten Affen pinkeln“, kommentiert er die Frage seines Sohnes Amir zum Koranunterricht. Was seinen Sohn in langdauerndes Missverhältnis zu Gott setzt. Denn wozu jemanden anbeten, der vielleicht den größten aller möglichen Makel besitzt? Den Makel der Nichtexistenz. Und das in Afghanistan.

Amir, Hosseinis alter ego, der in den Sechzigerjahren mit seinem atheistischen Vater in einer Kabuler Villa groß wird, in Jeans und mit den Filmen von Clint Eastwood, macht uns klar, wie viel näher an Europa Afghanistan einmal lag. Und doch ist dieses Kabul fern zugleich. Amir ist nie allein, er hat einen allerbesten Freund. Aber dieser Freund ist zugleich sein Dienstbote. Der gleichaltrige Hassan macht ihm das Frühstück, heizt den Ofen, bügelt seine Wäsche noch bevor Amir aufsteht, um zur Schule zu gehen. Denn Hassan ist ein Hazara, kein Paschtune. Das Hazara-Blut in seinen Adern hat schon bei seiner Geburt darüber entschieden, dass er niemals lesen lernen wird. Hassan ist als Dienstbote auf die Welt gekommen. Und doch ist diese Freundschaft zwischen den beiden Jungen einzigartig – und Hosseinis schöner Roman ist nichts anderes als die Geschichte dieser Freundschaft, über eine lange Trennung hinweg und auch über die endgültige, die der Tod ist.

Hosseinis Thema ist das romanhafteste aller großen romanhaften Themen: Schuld und Sühne. Mag sein, dass in vollends demokratischen Gesellschaften mit den vollends demokratischen Selbstbildern ihrer Mitglieder sich solche Geschichten gar nicht mehr schreiben lassen. Denn sie entstehen aus Brechungen. Wenn es nicht so klischeehaft klingen würde, müsste man sagen, Hosseini schreibt aus einer westlichen Selbstwahrnehmung heraus. Also aus einer Post-Nang- und-Naamos-Position: aus einer recht unpaschtunischen Position der Schwäche. Erst sie eröffnet Reflexionsräume, zeugt Individualität im strengen Sinne: ein Ich, das um sich selber weiß.

Amir ist der Überlegene, auch wenn er der Langsamere ist. Er ist überlegen, weil sein Freund, dieser Hazara-Junge, nicht einmal lügen kann. Wer aber die Wahrheit und die Lüge denken kann, hat den anderen schon in der Hand. Was Amir von sich selbst nicht wusste, ist nur, dass er nicht leben kann mit einer Lüge. Einer Lüge, die zuerst nichts weiter war als Ohnmacht und Schwäche. Aber sie beginnt, alles zu zerstören.

Im März 2002 endet „Drachenläufer“. In Amerika. Und dabei so romanhaft, wie selbst Romane nur noch selten aufhören. Gereimtes Leben, als ob es wirklich die nächste Strophe gäbe zu einer allerersten. Als ob es Antwort gäbe und Heilung. Aber bei Hosseini nimmt man es hin. Denn längst sind wir selbst mithineingewebt in den großen unterirdischen Strom dieses Romans: es ist, noch immer, bei aller Brechung, die Geschichte einer Blutsbande.

Khaled Hosseini: Drachenläufer. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2003. 415 S., 22 €. Der Autor liest heute um 20 Uhr in der Literaturwerkstatt c/o Backfabrik. Morgen diskutiert Hosseini mit Gerd Ruge um 20 Uhr in der Akademie der Künste. Veranstaltungsreihe „Literatur aus Afghanistan“ bis zum 25.9. Programm unter www.literaturwerkstatt.org .

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