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Kultur: Die Banden von Paris

Verdrängte Geschichte, abgeriegelte Subkulturen: Wie das Feuer in die Vorstädte kam

„Danke, dass Sie gekommen sind“, sagt der algerische Migrant zu seinem Besucher. Mysteriöse Videobänder locken den Kulturjournalisten Georges Laurent in Michael Hanekes Film „Caché“ in einen von Immigranten bewohnten ärmlichen Vorort, wo er sich mit seiner eigenen verdrängten Geschichte konfrontiert sieht. Hanekes Film, der zurzeit in den Pariser Kinos läuft, erzählt, wie der von Daniel Auteuil gespielte Franzose einst ein algerisches Waisenkind aus dessen Pflegefamilie verdrängte. Das war in den 60er Jahren, als eine Immigranten-Demo auf Befehl des Pariser Polizeipräfekten brutal aufgelöst wurde. Beim Massaker vom 17.10.1961wurden algerische Demonstranten getötet und in die Seine geworfen: ein Ereignis, das ganz Frankreich lange verdrängte. Die seitdem über Jahrzehnte forcierte soziale „Entmischung“ des Pariser Stadtraums hat auch einen Teil der französisch-algerischen Schmerzgeschichte in die Betonburgen der Vorstädte abgeschoben. Die Ghettoisierung hat längst auch die panafrikanischen Zuwanderer erfasst.

Die Subkultur der Migranten hat sich von der französischen Zivilisation abgelöst, hat eigene Sprachen entwickelt, im Alltag, in der Literatur oder in den Filmen des cinéma beurre. Erst kürzlich versuchte der tunesische Regisseur Abdellatif Kechiche in seinem grandiosen Film „L’Esquive“ die Versöhnung der Sprachen: Ein Jugendlicher aus der dritten Einwanderergeneration verliebt sich in einer dieser Vorstädte in ein kapriziöses Pariser Mädchen, das seine ganze Energie in die Marivaux-Aufführung einer Amateurtheatertruppe investiert. Vorort-Slang und Rokoko-Französisch, der Verliebte in der Rolle des Arlequin und die Comtesse: ein Annäherungsversuch getrennter Welten, ein explosives Spiel zwischen den Codes, zwischen aggressiven Impulsen und der artifiziellen Eleganz eines Marivaux. Kechiches filmische Kulturdiplomatie steht in der besten französischen Tradition von Gespräch und Verständigung.

Wenn heute die Gewalt in den Pariser Vorstädten genauso explodiert, wie es Mathieu Kassovitz bereits 1995 in seinem Film „Hass“ schilderte, dann liegt das nicht zuletzt daran, dass diese Tradition mutwillig zerstört wurde: für ein gefährliches politisches Spiel. Frankreichs Innenminister Nicolas Sarkozy hat den Präsidentschaftswahlkampf 2007 mit dem Versprechen eröffnet, er werde die „Courneuve mit dem Kärcher reinigen“ und die Nation „von Abschaum befreien“. Mit solchen Parolen möchte er die Wähler der Front National für sich gewinnen. Dessen alternder Chef Le Pen hat bereits angedeutet, er könne sich für den entscheidenden zweiten Wahlgang die Empfehlung eines konservativen Kandidaten vorstellen. Eine simple Rechnung für Sarkozy: Chirac oder Dominique de Villepin dürften von Le Pens Stammwählern kaum profitieren.

Sarkozy hat längst begriffen, dass neoliberale Politik nach amerikanischem Vorbild in Kern-Europa langfristig nur dann funktioniert, wenn sie die sozialen Demarkationslinien aggressiv umreißt, die Integrationspolitik aufgibt und auf polizeiliche Maßnahmen reduziert. Deshalb beschwört Sarkozy die Ängste der Franzosen und spielt den entschlossenen Kämpfer für Ruhe und Ordnung. Er hat die Angst in die Vorstädte getragen: Während arbeitslose Jugendliche, aber auch Drogenabhängige und Schulversager nicht mehr wissen, wer auf kommunaler Ebene ihr Ansprechpartner ist, haben viele nach eigener Aussage Panik vor den Schikanen der mit neuer Gewaltautorität ausgestatten Polizisten und der nationalen CRS-Truppe.

Die Dokufiction „Wesh wesh, qu’est-ce qui ce passe“ von Rabah Ameur-Zaïmeche erzählte bereits 2003 von den „Spielchen“ zwischen Jugendlichen und Polizisten, die in einem Vorort im Departement Seine-Saint-Denis die Lösung sozialer Probleme zusätzlich erschweren. Aber jetzt hat Sarkozy die Politik selbst auf das Niveau des Straßenkampfs heruntergezogen, indem der Staat und seine Organe mit den Methoden einer Gang vorgehen. „Auch Villepin und Sarkozy prügeln sich in Clichy“, titelte „Libération“ am Mittwoch. Womöglich schließen sich die sonst rivalisierenden Drogen- und Straßenbanden nun gegen die Staatsmacht zusammen – auch wenn es bislang „nur“ verstreute Grüppchen sind, die Autos anzünden und Polizeistationen überfallen.

Amsterdam vor einem Jahr. Birmingham vor zehn Tagen. Und jetzt Pariser Vororte wie Clichy-sous-Bois: Ist das das „Ende des Multikulturalismus“, die Entlarvung einer europäischen Gesellschaftslüge? Erweist sich Samuel Huntingtons Doktrin vom „Kampf der Kulturen“ nun doch als die traurige Wahrheit? Interessanterweise verspürte der prominente amerikanische Autor des „Clash of Civilizations“ kürzlich bei einem Streitgespräch in Neu-Hardenberg keinerlei Bedürfnis, seine Thesen zu wiederholen. Denn vom Scheitern der sozialen Integration kann eine Gesellschaft nur dann ernsthaft reden, wenn sie sich zuvor ernsthaft um jene bemühte. Und an den Konflikträndern von Sarkozys innenpolitischem Feldzug verlaufen weniger kulturelle Grenzen als die Grenzen der Macht. Das Zentrum und die Peripherie, Hanekes Kulturjournalist und der algerische Underdog, Kechiches Comtesse und der Arlequin aus der Vorstadt: Sie trennt das tiefsitzende Gefühl der an den Rand Gedrängten, Opfer einer großen politischen Ungerechtigkeit zu sein. Wer verstehen will, warum in Frankreich die Vorstädte brennen, braucht nicht gleich Kultur und Religion zu bemühen.

Eberhard Spreng

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